Himmlische Juwelen
eigentlich gespielt wurde. Sollte sie tatsächlich
auf so etwas wie eine »testamentarische Verfügung« stoßen, hätte diese [88] nach
dreihundert Jahren juristisch keine Bedeutung mehr. Dottor Moretti musste das
wissen. »Tanto fumo. Poco arrosto«, sagte sie leise
vor sich hin. Viel Rauch gab es in der Tat: die Schwindelei über die anderen
Bewerber um den Job; die Einschaltung eines Anwalts von Dottor Morettis
Kaliber; die vielen Auflagen bei ihrer Arbeit. Doch was wäre der Braten? Oder
welchen Braten glaubten sie zu riechen?
Sonderbar war auch, dass Roseanna dieses Büro hier nicht in Beschlag
genommen hatte: Die Stiftung würde kaum mehr einen anderen Direktor haben.
»Wäre ich doch Sängerin geworden«, murmelte Caterina vor sich hin,
als ob ihr damit dieses Büro und wochenlanges Dokumentenstudium erspart
geblieben wären. Doch sie rief sich zur Ordnung: Ihr Gesangstalent hätte
bestenfalls für den Chor der Oper von Treviso gereicht.
Sie hörte auf zu kippeln, zog das Päckchen näher zu sich heran,
knibberte den Knoten auf, wickelte die Schnur um ihre Finger zu einem
ordentlichen Oval und legte sie in die oberste Schreibtischecke. Fast
dreihundert Jahre alt und nicht brüchig, immer noch brauchbar. Der erste Brief,
datiert vom 4. Januar 1710, war auf Italienisch in der Handschrift eines
Italieners verfasst. Der Adressat war: »Il mio fratello in
Cristo Agostino«. Caterina fasste das Papier an den oberen Ecken und
hielt es gegen das Licht. Es war kein Wasserzeichen zu erkennen, aber das
Papier wirkte tatsächlich sehr alt.
Die Schrift zu entziffern war nicht ganz einfach, die Sprache und
der inhaltliche Zusammenhang machten ihr keine Schwierigkeiten. Zunächst ging
es um die Oper Tassilone; [89] der Absender hatte das
unermessliche Vergnügen gehabt, sie im vergangenen Jahr in Düsseldorf zu sehen.
Erst jetzt unterfange er sich, dem schöpferischen Genius des Komponisten,
dessen Zeit er nicht übermäßig beanspruchen wolle, zu huldigen, ihm in aller
Bescheidenheit seine Bewunderung für ein Werk auszusprechen, welches zugleich
moralischer Erbauung diene und künstlerisch äußerst originell sei.
Caterina hob den Blick und zermarterte sich das Hirn nach einem
Hinweis, ob dies die Schmeichelei eines Speichelleckers oder aufrichtiges Lob
war. Steffani, erinnerte sie sich, hatte die französische Manier in die
italienische Oper eingeführt, eine Novität, die Händel, der große Nachahmer –
um kein stärkeres Wort zu benutzen –, ihm abgelauscht hatte.
Der Schreiber erging sich noch drei weitere Absätze lang über das
Werk, schwärmte von seiner Vortrefflichkeit und Sittlichkeit, von der
Vollkommenheit der Musik und den profunden Prinzipien, die im Libretto Ausdruck
fänden.
Es folgten Notenlinien, ein paar Takte. Caterina las die erste
Zeile: ›Deh non far colle tue lagrime‹ , und noch
während sie die Worte artikulierte, meinte sie das außerordentlich schöne Largo
zu hören. Als das Oboensolo einsetzte, verstummte sie, gebannt von diesen
Klängen.
Sie griff nach dem nächsten Blatt, doch zu ihrer Enttäuschung war
darauf nur noch Prosa. Zwei weitere Absätze, und der Schreiber kam zum
Schlussabsatz, worin seine Wenigkeit den verehrten Abbé bat, sich beim Bischof
von Celle für die Ernennung seines Neffen Marco zum Chorleiter an der Kirche
St. Ludwig zu verwenden. Die Unterschrift war unleserlich, wie so oft.
Darunter stand in einer anderen, nach hinten geneigten [90] Schrift:
»Guter Mann. Prüfen, ob das möglich ist.« Sonst nichts.
Sie zog Kladde und Stift aus der Tasche. »1. Bittschreiben um Posten
als Chorleiter. Befürwortet von anderer Hand. 1.4.1710.« Vielleicht tauchte
Marco noch einmal auf; oder sie fände ein Dankschreiben an den verehrten Abbé
nach Erhalt des Postens.
Sie legte die beiden Blätter umgedreht ab und nahm sich den nächsten
Brief vor. Er datierte vom 21. Juni 1700 und war an »Mio
caro Agostino« gerichtet. Die vertrauliche Anrede ließ sie aufhorchen.
Auf allgemeine Bemerkungen über Arbeit und Reisen, gemeinsame Freunde und
Probleme mit Dienstboten folgte Klatsch und Tratsch: Der Schreiber berichtete
seinem Freund Agostino, dass sich Herzog N.H. mit
der Frau seines Bruders auf dem letzten Karnevalsball der Saison öffentlich
gezeigt habe. Der dritte Sohn von G.R. sei an
Keuchhusten gestorben, die Eltern seien untröstlich, und der Schreiber trauere
mit ihnen: so ein guter Junge, keine acht Jahre alt geworden. Dann berichtete
er seinem Freund, der
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