Himmlische Juwelen
Baron (der Name war nicht genau zu entziffern, »Bastlar«
oder »Botslar«) habe sich über ihn lustig gemacht: weil Steffani seine eigenen
Opern laut mitsinge, wenn er als Zuhörer im Publikum sitze. Sein Freund solle
das wissen, falls der Baron ihm schmeichle oder das Blaue vom Himmel
verspreche. Folgten noch beste Wünsche für Steffanis Wohlergehen und eine
unleserliche Unterschrift.
Caterina machte sich eine kommentarlose Notiz, obwohl es sie
empörte, dass so ein dahergelaufener Baron sich über Steffani lustig machte.
Sie legte den Brief beiseite und griff nach dem nächsten Dokument. Ihr blieb
das Herz stehen. [91] Es schnürte ihr die Kehle zu: Sie hielt eine Partitur in
Händen, Noten tanzten über die Linien. Sie las die Musik vom Blatt ab, summte
lautlos Zeile für Zeile und hörte die Bässe und Violinen spielen. Als auf dem
zweiten Blatt Worte unter den Noten standen, wurde ihr klar, dass sie eine Arie
sang.
Sie blätterte noch einmal zum ersten Blatt zurück. Oh, wie
vollkommen das war, diese Phrase in der Introduktion, die beim Einsatz der
Sopranstimme wiederaufgenommen wurde. Sie las den Text, hätte es ahnen können:
›Morirò fra strazi e scempi.‹ Wer hatte sich da hineingesteigert? »Ich werde
sterben in Grauen und Gemetzel.« Hätte sie eine Zeitmaschine, würde sie sich in
die Vergangenheit zurückbeamen und so viele Librettisten wie möglich
aufgreifen. Sie würde sie in Brasilien wieder aussetzen, dort könnten sie
Drehbücher für telenovelas schreiben.
Ein Blick auf die ersten Worte der zweiten Zeile, ›E dirassi
ingiusti dei‹, bestärkte sie in ihrem unfrommen Wunsch. Bis zum Ende der Arie
konzentrierte sie sich nun allein auf die Musik. »Fürwahr, fürwahr«, murmelte
sie vor sich hin, während sie die Musik ausblendete und den Blick vom Papier
abwandte. »Was für ein raffinierter Bursche.«
Sie wünschte, sie hätte sich im Studium viel mehr mit Steffani
beschäftigt und nicht nur eine einzige Aufführung, die wunderbare Niobe, in London gesehen. Diese geniale Arie hier bewies ihr
nur allzu deutlich, wie sehr sie ihn bisher unterschätzt hatte. Oder könnte ihm
dieses Blatt von einem Kollegen geschickt worden sein oder von einem seiner
Schüler? Sie suchte nach einem Hinweis, doch das Blatt war weder bezeichnet
noch signiert, aber es war dieselbe nach [92] hinten geneigte Schrift, die sie
schon von der Notiz am Ende des ersten Briefs her kannte.
In den Archiven der Marciana würde sie die Handschrift
identifizieren können: Sie brauchte sie nur mit einem Text aus der Feder
Steffanis zu vergleichen oder ein Buch herauszusuchen, in dem ein paar Seiten
einer Partitur reproduziert waren. Caterina hatte ein gutes optisches
Gedächtnis. Aber wie viel bequemer war es, einfach sitzen zu bleiben und
weiterzulesen: Früher oder später würde sie schon noch auf eine signierte
Partitur stoßen. Sie schummelte ein wenig, blätterte alles bis zum Ende des
Päckchens durch, doch es kamen keine Noten mehr.
Noch einmal schaute sie sich begeistert die Arie an. Schließlich
notierte sie den mutmaßlichen Titel und legte das Blatt umgedreht beiseite; als
Nächstes kam ein Dokument in Kirchenlatein, ein Brief von 1719 an Steffani in
seiner Eigenschaft als Bischof. Umständlich erklärte man ihm darin, warum die
Weiterleitung seiner Pfründe aus den Diözesen von Spiga – wo immer das sein
mochte – sich verzögert hatte.
Nachdem sie auch diesen Brief exzerpiert hatte, sah Caterina auf die
Uhr: Schon kurz nach zwei. Als habe der Blick auf die Uhrzeiger den Bann
gebrochen, merkte sie plötzlich, wie hungrig sie war. Sie nahm ihr Portemonnaie
aus der Tasche und durchsuchte die Fächer nach ihrer Benutzerkarte für die
Marciana. Vor zwei Jahren abgelaufen. In einem normalen Land, in einer normalen
Stadt würde man hingehen und die Karte verlängern lassen, aber dort wüsste man
auch, dass es dafür ein klar geregeltes Verfahren gab. Caterina hatte zwar
jahrelang nicht mehr in Italien gelebt, aber keinen Grund anzunehmen, dass sich
etwas geändert [93] hatte, und so überlegte sie als Erstes, wie sie bekommen
konnte, was sie wollte, ohne ihre Zeit mit einem System zu vergeuden, das –
wenn sie sich recht erinnerte und alles beim Alten geblieben war – sich darauf
kaprizierte, den Leuten immer neue Hindernisse in den Weg zu legen.
Sie ging die Neuigkeiten der letzten zehn Jahre noch einmal durch: wer
wo arbeitete, wer wen geheiratet hatte, wer Teil des Apparats geworden war, der
die
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