Himmlische Juwelen
es konnte natürlich
auch sein, dass Steffani selbst aufrichtig danach strebte, [178] verlorene
Schäflein in die einzig wahre Kirche zurückzubringen. Wie viele einzig wahre
Kirchen es nicht gab. Statt den Massen zu predigen und die Sakramente zu
spenden, konzentrierte sich der Abbé darauf, den Adel und die Fürsten in den
Schoß der Kirche zurückzuholen oder von ihrem ererbten Protestantismus zu
heilen. Nach Caterinas Auffassung hatte dieser missionarische Eifer wenig mit
dem Glauben zu tun: Hier wurden politische Allianzen geschmiedet und Ehen
angebahnt. Sobald einem König oder Kaiser, einem Kurfürsten oder Grafen die
Macht entglitt, konnte man nur überleben, wenn man das sinkende Schiff verließ
und die Religion des Siegers annahm, um womöglich später erneut zu
konvertieren. Ihr fiel ein Mitschüler ein, der aus Südtirol kam. Seine Familie
hatte jahrhundertelang immer im selben Haus gelebt, aber sein Großvater war in
Italien, sein Vater in Österreich und er selbst wieder in Italien geboren – die
Nationalität wechselte, sobald sich durch fürstliche Willkür oder einen Krieg
die Grenze verschob.
Hatte auch heute noch irgendein Glaube für die Mehrheit der Europäer
dieselbe Macht? Caterina überlegte, wofür ihre Zeitgenossen ihr Leben hergeben
würden. Transsubstantiation? Die Dreifaltigkeit? Garantiert nicht. Um die
Familie oder das Leben eines geliebten Menschen zu retten? Das schon.
Vielleicht auch noch, um ihren Besitz zu retten – aber mehr fiel ihr nicht ein.
Auf Dinnerpartys war sie Leuten begegnet – hauptsächlich in England und
meistens Männern –, die herumposaunten, sie würden ihr Leben für die
Meinungsfreiheit opfern, aber das nahm sie ihnen ebenso wenig ab, wie sie es
von sich selbst behauptete.
Sie dachte an all die Legenden, die man ihr in der Schule [179] erzählt
hatte, Geschichten von heldenhaftem Widerstand und Opfermut: Giordano Bruno,
Matteotti, Maria Goretti, die endlose Liste von Märtyrern und Heiligen. Wie lange
war das her, und wie viel trennte uns nicht von ihnen.
Ihres Wissens gingen Steffani und seine katholischen Glaubensbrüder
damals kein allzu großes Risiko mehr ein, wenn sie den Gang der Geschichte zu
verändern suchten. Er musste wohl kaum noch für seinen Glauben auf dem
Scheiterhaufen sterben, aber dass er dafür leben wollte, stand für sie fest.
Wie ernst er seine Aufgabe doch nahm: reiste Zehntausende Kilometer durch
Deutschland und Österreich, Belgien und die Niederlande, immer wieder nach Rom
und zurück. Und das wollte im achtzehnten Jahrhundert etwas heißen: Ob mit der
Kutsche, zu Pferd oder zu Fuß: Die Reise über die Alpen war ein endloses Hin
und Her, bergauf und bergab auf kaum passierbaren Wegen, durch Schnee, Lawinen
und Schlamm, ohne dass man wusste, wann und ob überhaupt man sein Ziel
erreichen würde. Wenn da kein Glaube vonnöten war.
Wenn Steffani tatsächlich Kastrat war, dann hatte man ihm das
angetan um eines Kirchenchores willen. Und dennoch, dennoch, dennoch hatte er
sein Leben in den Dienst dieser Kirche gestellt, hatte missioniert und bekehrt,
Herrscher mitsamt ihrer Herde in seine Kirche zurückgeholt, um ihre Macht zu
mehren.
Als sie Urteile von Zeitgenossen entdeckte, die Steffani persönlich
gekannt hatten, stürzte sie sich darauf: »Die Verwandlung eines
Unterhaltungskünstlers in einen Bischof ist nicht weniger lächerlich als die
Verwandlung einer Hetäre in eine Philosophin bei Lukian.« Das machte sie
wütend. [180] Steffani war weit mehr als nur ein Unterhaltungskünstler, du
arrogantes Miststück: Die Musik legte Zeugnis davon ab. Und dann fand sie einen
Kommentar über einen glücklichen Steffani, nach der Aufführung einer seiner
Opern: Sein hochmütiges Gebaren schicke sich eher für die Bühne als für einen
demütigen Geistlichen. Warum sollte er auf seine Musik nicht stolz sein? Und
was sollte der Unsinn mit dem demütigen Geistlichen? Hatte man derlei jemals
gesehen?
Sie stand auf und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Hatte
Steffani deswegen die Kirche so sehr gebraucht – um sich ein gewisses Ansehen
zu verschaffen und sich vor offenen Angriffen zu schützen? Boshafte Kommentare
wie diese zeigten doch, dass er sich niemals frei und sicher fühlen konnte. Man
mochte seine Eitelkeit kritisieren und sich über sein Aussehen lustig machen: »kurze
schwarze Haare, vermischt mit einzelnen grauen, ein Käppchen aus Satin, dazu
ein großes Diamantkreuz und am Finger ein großer Saphir« –
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