Himmlische Juwelen
müsse sie den Fokus ihrer
Recherchen ausweiten – wenn er ihr förmlich kam, konnte sie das auch – und
weitere Quellen heranziehen. Sie werde daher den heutigen Tag nicht in der
Stiftung verbringen, sondern ihre Recherchen andernorts fortsetzen.
[169] »Das ist für Sie, Dottor Moretti«, sagte sie und klickte auf
»Senden«. Ab ging die Post. Über die Arie verlor sie vorläufig kein Wort.
Sie klappte ihr Handy auf, und auch dort erwartete sie eine
Nachricht. Sie erkannte die Stimme des Rumänen sofort, das unbekümmerte
Italienisch, die mitunter nicht ganz richtige Wendung. Wie sie sah, hatte er um
halb vier Uhr morgens angerufen; sie dankte dem Himmel, dass sie das Handy vor
dem Schlafengehen abgeschaltet hatte.
Zu ihrer Überraschung – oder auch nicht, wenn sie bedachte, was für
ein brillanter Dozent und Forscher er war – hatte man dem Rumänen die Leitung
einer musikwissenschaftlichen Fakultät angeboten – wo, verriet er nicht –, und
jetzt denke er, zugleich deprimiert und inspiriert von ihrem mutigen Entschluss,
Manchester den Rücken zu kehren und ihn der »tödlichen Langeweile« zu
überlassen, ernsthaft über das Angebot nach. Seine Stimme wurde leiser und
brach mitten im Satz ab. Sie klappte das Handy zu und legte es weg.
Plötzlich meldete sich ihr Gewissen – die Cousins bezahlten sie
dafür, dass sie die Papiere durchforstete: Vielleicht fand sich ja darin auch
ein Hinweis auf Königsmarck. Sie schloss den Tresor auf und nahm das dicke
Päckchen wieder hervor, das sie am Vortag in Angriff genommen hatte. Sie löste
die Schnur, die so erstaunlich gut ganze drei Jahrhunderte überdauert hatte,
und machte sich an das erste Blatt. Den Brief kannte sie schon, und sie schalt
sich, dass sie von ihrer bewährten Routine abgegangen war und die gelesenen
Dokumente nicht umgedreht auf den Stapel zurückgelegt hatte.
[170] Oder hatte sie das? Sie versuchte sich zu erinnern, doch das
gestrige Abendessen hatte die Erinnerung an jegliche Routine wie weggewischt.
Das beunruhigte sie. Sie blätterte weiter, bis sie ein Dokument fand, das ihr völlig
unbekannt vorkam. Sie beschleunigte die Lektüre, indem sie ausschließlich
Datum, Anrede, die ersten zwei Absätze und die Unterschrift las; auf diese
Weise hatte sie den Packen schnell durch, fand dabei aber auch nichts, was sich
auf Steffanis Familie oder seine Gefühle für sie, seinen Besitz oder seinen
Letzten Willen bezog.
Sie band das Päckchen wieder zu, legte es umgedreht auf den Deckel
der größeren Truhe und nahm das nächste, fast ebenso dicke Päckchen aus der
vorderen Truhe heraus. Es war das letzte. Darunter war nichts mehr, nur noch
der Holzboden.
Sie löste die Schnur, verwahrte sie und ging in aller Eile die
Papiere durch, jedoch mit der Vorsicht, die jedem zu eigen ist, der sich
professionell mit jahrhundertealten Dokumenten beschäftigt. Sie fasste sie
immer mit beiden Händen in der Mitte der Seitenränder und lüftete sie sachte
von dem darunterliegenden Blatt. Beim kleinsten Widerstand bewegte sie das
Papier vorsichtig hin und her: Nach und nach ließ sich so jedes Blatt leicht
ablösen.
Nach den ersten zehn Blättern musste sie sich eingestehen, dass sie
ihre Zeit verschwendete: Damit ihr nichts entging, musste sie eben doch jedes
Dokument von Anfang bis Ende sorgfältig durchlesen.
Also legte sie die Papiere wieder ordentlich zusammen, band das Päckchen
zu und trug es zum Tresor. Auf dem hinteren Truhendeckel ließ sich nichts mehr
stapeln. Also [171] schichtete sie alle drei Päckchen in die Truhe zurück und
schloss die Tresortür ab.
Sie ging ins Internet, gab Cristinas Adresse ein und schrieb: »Liebe
Tina-Lina, natürlich darfst Du alle Mails lesen, die ich mit diesem Mann in
Konstanz austausche, und natürlich bin ich neugierig auf alles, was er über
Steffani weiß. Ich habe mich selbst schon ein bisschen über diese Affäre
informiert: Offenbar haben die beiden Liebenden einander in Versen aus seinen
Opern ihre Leidenschaft offenbart. Du glaubst an den Heiligen Geist, also
dürfte es Dir nicht schwerfallen, auch das zu glauben. Wie dem auch sei, meine
Liebe, bis jetzt habe ich keinerlei Hinweis darauf gefunden, dass Abbé Steffani
anderweitig an der Sache beteiligt war, und von ›Beteiligung‹ zu sprechen ist
ohnedies übertrieben.
Aber jetzt hör mal zu, Tina-Lina: Wir alle lieben Dich und
respektieren Dich und werden Dich immer lieben und respektieren, ganz egal, was
Du tust und mit wem Du es tust. Ich
Weitere Kostenlose Bücher