Himmlische Juwelen
wobei sie nicht bedacht hatte, dass die Generation
ihrer Mutter in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen war. Es hatte sie
überrascht, dass ihre Mutter nicht darüber lachen konnte, sondern sagte: »Ob
heiß oder kalt, spielt keine Rolle: Rache zerstört deine Seele so oder so«, und
ihrer jüngsten Tochter ein Stück Schokoladentorte anbot.
Caterina stellte sich einen Moment lang vor, was für ein Gesicht der
Mann machen würde, wenn sie mit dem bulligen Sergio an ihrer Seite seinen Laden
betrat. »Nein, er hat mir ja nichts getan. Er hat mir Angst eingejagt, aber ich
habe ihn nur dieses eine Mal gesehen, seitdem nicht mehr. Außer in dem
Geschäft.«
»Gut. Sag mir, wo das ist, dann geh ich hin und rede ein Wörtchen
mit ihm. Ist es eilig?«
Sie wollte schon ja sagen, aber da der Mann ihr nie mehr begegnet
war, siegte ihr gesunder Menschenverstand: »Nein, eigentlich nicht.«
»Dann schau ich mal auf dem Heimweg vorbei. Heute und morgen kann
ich nicht. Tut mir leid, das geht wirklich nicht. Aber dann mach ich’s,
versprochen.«
Caterina zweifelte nicht daran und versicherte noch einmal, es habe
keine Eile. Sie beschrieb ihm, wo der Laden zu finden war, ohne zu frotzeln,
was er am helllichten Tag in der Stadt verloren habe, er habe doch eine Fabrik
zu leiten. [249] Sie wollte eine Erklärung; wenn Sergio ihr die liefern könnte,
wunderbar. Um den Druck aus der Sache herauszunehmen, fragte sie noch ausgiebig
nach den Kindern, deren Intelligenz und Schönheit alles übertraf, was man
selbst bei den begabtesten Kindern erwarten konnte. Dann wurde Sergio gerufen,
und er sagte noch, er werde sich melden, sowie er mit diesem Mann gesprochen
habe.
Caterina nahm sich wieder die Dokumente vor, die restlichen drei
Seiten mit den Namen von Leuten, die Steffani für die Kirche gewonnen oder
vielmehr zurückgewonnen hatte. Eisern recherchierte sie jeden Einzelnen und
konnte bis auf sechs alle identifizieren. Dabei kam zwar nichts Ergiebiges über
Steffani heraus, aber die Professoren, die ihr das Recherchieren beigebracht
hatten, wären stolz auf sie gewesen.
Sie las tapfer weiter, sehnte sich aber inständig nach etwas anderem
als diesen langweiligen Briefen.
Wie von Zauberhand ging ihr Wunsch in Erfüllung, und sie stieß auf
eine Musikhandschrift, ein Rezitativ: ›Dell’ alma stanca‹. So lange hatte sie
sich an diesem Tag durch dröge Texte gequält, dass sie sich die Bemerkung nicht
verkneifen konnte: »Meine alma ist wirklich sehr stanca. «
Nach diesem Stoßseufzer nahm sie das Blatt genauer in Augenschein
und erkannte sowohl die Musik wieder als auch die Handschrift. Während sie das
Sopransolo vor sich hin sang, erinnerte sie sich, dass es – Wunder über Wunder – von vier Viole da Gamba begleitet wurde. Sie verband ihre Stimme mit dem
warmen Klang der Instrumente und spürte, wie gut das funktionierte und wie
wunderbar es sich anhören musste. Wie so oft stellte die Musik auch hier das [250] Libretto
weit in den Schatten, und einen Moment lang tat ihr Steffani leid, dass er
immer wieder dieselben abgegriffenen Gefühle in Musik setzen musste. Sie
erinnerte sich, dass in der Aufführung von Niobe, die
sie gesehen hatte, in der anschließenden Arie zu den Violen noch
Saiteninstrumente und Flöten dazugekommen waren. Also musste diese Musik als
Partitur gedruckt vorhanden sein, das Rezitativ hier würde folglich selbst bei
einem Verkauf an irgendein Privatarchiv nicht in der Versenkung verschwinden
und nie mehr zu hören sein. Lächelnd trug sie das Blatt in ihre Liste ein,
schrieb die Nummer des Päckchens auf und zählte die Bögen durch, um die
richtige Seitenzahl zu notieren. So konnten die Cousins oder derjenige von
ihnen, der sich als Erbe durchsetzte, das Dokument mühelos finden und damit
anstellen, was sie wollten.
Als Nächstes kam ein Brief von Ortensio Mauro, Steffanis
Librettisten und einem seiner besten Freunde, wie sie gelesen hatte.
Geschrieben 1707 und offenbar an Steffani nach Düsseldorf geschickt, ging es um
Neuigkeiten aus Hannover, das Steffani vier Jahre zuvor verlassen hatte. Sie
las ein paar Absätze und stieß dann auf Folgendes: »Hier wird jeden Abend
gesungen und gespielt (…) Und Sie sind die unschuldige Ursache davon.« Der
Zauber von Steffanis Musik sei einzigartig, alle fühlten sich bis ins Innerste
gerührt und erhoben. Was er sonst auch tun möge, Menschen segnen oder
exkommunizieren, nichts davon, weder Segen noch Bann, werde je so viel Ethos
und Pathos entfalten
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