Himmlische Juwelen
Grazia« konnte sie
etliche Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruieren. Steffani hatte in diesem
Zeitraum drei Grundstücke geerbt und zwei davon verkauft, aber kein einziges
dieser Dokumente gab Aufschluss über seine Sympathien für den einen oder
anderen Verwandten: Land wechselte den Besitzer, und das war’s.
Gewissenhaft berichtete sie Dottor Moretti täglich von ihren Funden,
insbesondere von jeder einzelnen Erwähnung der Vorfahren der beiden Cousins.
Seine Antworten waren verbindlich; zurzeit sei er allerdings mit einem
komplizierten Fall in Brescia beschäftigt, woher er auch maile, freue sich aber
darauf, sie wiederzusehen, wenn er zurück sei. Am ersten Tag ging sie mit
Roseanna essen, den zweiten Tag verbrachte sie ganz allein in der Stiftung.
[257] Am Morgen des dritten Tages ging Caterina – nur weil sie Lust auf
einen langen Spaziergang an der Riva hatte – zur Marciana und begab sich so
unbehelligt, als sei sie unsichtbar, in den Leseraum. Ihr Tisch sah noch genau
so aus, wie sie ihn verlassen hatte: Sogar das Einwickelpapier ihrer Süßigkeiten
lag noch im Papierkorb.
Cristinas Rat befolgend, nahm sie sich die beiden übergroßen, bisher
unbeachtet gebliebenen Folianten vor, die ihr die Bibliothekarin vor einiger
Zeit gebracht hatte. Um sie auf dem kleinen Tisch aufschlagen zu können, musste
sie erst alle anderen Bücher in ein leeres Regalfach räumen.
Sie schob die beiden Bände in die Tischmitte und schlug den ersten
auf. Schon nach wenigen Seiten bestätigte sich, was Tina gesagt hatte: Wie
einzelne Socken in einer Schublade fand sich hier ein Sammelsurium von
Einzelstücken: ein Ehevertrag zwischen »Marco Scarpa, musicista «
und »Elisabetta Pianon, serva «; die Rechnung eines
»Holzlieferanten« an die »Scuola della Pietà«, aus der, da außer dem Preis
keinerlei Angaben gemacht wurde, nicht hervorging, ob es sich um Brennholz
handelte oder um Holz zum Instrumentenbau.
Es gab einen Vertrag zwischen einem gewissen »Giovanni von Castello, tiorbista « und »Sor. Lorenzo Loredan«, worin der
Preis für die Aufführung von drei Konzerten während der Hochzeitsfeierlichkeiten
»meiner TochterBianca Loredan« vereinbart wurde. Als
Nächstes ein Brief an Abbé Nicolò Montalbano. Caterina ballte die Fäuste und
richtete sich ruckartig auf, wobei ihre Brust gegen den Band und dieser an die
Rückwand der Lesenische stieß. Der stechende Schmerz versetzte ihrem Körper
einen erneuten Schock. Sie starrte den Namen an: »Abbé Nicolò Montalbano«.
[258] Montalbano war ihr noch nie mit dem Titel »Abbé« begegnet.
Hauptsächlich als Librettist bekannt, war Montalbano nach allem, was sie gelesen
hatte, eine eher zwielichtige Gestalt. Die Gräfin von Platen hatte geschrieben,
»der Abbé« habe den tödlichen Stoß möglich gemacht und davon profitiert; und es
war Montalbano, der kurz nach Königsmarcks Verschwinden die 150 000 Taler
bekommen hatte.
Der Brief, der Brief, der Brief, dachte sie: Lies den Brief, den du
hier vor dir hast. Er war vom Januar 1678 und enthielt eine Liste von
Kritikpunkten an Montalbanos Bearbeitung des Librettos von Orontea, jener Oper, mit der das Opernhaus in Hannover eröffnet wurde. Die Musik war von
Cesti, dem Komponisten von Il Pomo d’Oro, wusste sie.
Der Autor hier mit dem unleserlichen Namen ging mit Montalbanos Text hart ins
Gericht, das Originallibretto von Giacinto Cicognini sei wesentlich besser.
Als Nächstes kam eine Liste der Sänger, die bei der ersten
venezianischen Aufführung von Cestis Il Tito mitgewirkt hatten. Sie blätterte weiter, fand aber keinen weiteren Hinweis auf
Montalbano, dafür aber noch mehr Besetzungslisten und Briefe von Impresarios
und Musikern, die Opernaufführungen in verschiedenen Städten und Ländern zu
organisieren versuchten. Da wurde zum Beispiel angefragt, ob das Theater über
ein Cembalo verfüge, ob man, falls das nicht möglich sei, bei einer Familie vor
Ort eins leihen könne und wer in diesem Fall für die Qualität des Instruments
garantiere. Ob es stimme, dass Signora Laura, die aktuelle Geliebte von Signor
Marcello und angeblich schwanger von ihm, dennoch die Rolle der Alceste singen
werde?
Sie las den ersten Band bis zum Ende durch, fasziniert [259] davon, wie
aus diesen Papieren das bunte Leben der Musik und der Oper wiedererstand, im
Gegensatz zu der grauen Materie, mit der sich ihre Kollegen zeitlebens
herumschlugen.
Der zweite Band, erwartungsvoll aufgeschlagen, erwies sich als
Enttäuschung,
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