Himmlische Juwelen
dem Ladentisch vor sich den
jungen Mann erblickte, der sie kürzlich verfolgt hatte. Beinahe geriet sie ins
Stolpern, doch sie fing sich gerade noch. Kein Zweifel, sie hatte ihn eindeutig
erkannt: Das war der Mann. Erst als [242] sie das Schaufenster ein gutes Stück
hinter sich gelassen hatte, drehte sie sich um und merkte sich den Namen des
Geschäfts.
Dass er kein bezahlter Killer war, konnte sie kaum trösten; ihn
wiederzusehen, war trotzdem ein Schock. Sie wusste nicht, wer er war, doch das
ließ sich leicht in Erfahrung bringen. Vielleicht sollte sie Clara oder Cinzia
um Hilfe bitten; die konnten, um harmloser zu erscheinen, einfach mit einem
ihrer Kinder zu ihm reingehen und ihn in ein Gespräch verwickeln. Auf
Veneziano. Clara wäre besser: Ihr glückstrahlendes Wesen brachte jeden zum
Reden. Caterina dachte an Sergio, Claras Mann, der knapp hundert Kilo wog und
fast zwei Meter groß war. Der wäre am besten.
Mit frischem Mut ging sie weiter in Richtung San Filippo e Giacomo;
unterwegs kehrte sie ein und aß drei von den kleinen Pizze, zwei als
Mittagessen und eine zur Feier ihrer Entdeckung des Mannes, der sie verfolgt
hatte.
[243] 24
In der Fondazione fand sie Roseanna in ihrem Büro vor,
über ein Buch gebeugt, ganz die stellvertretende Direktorin der Fondazione
Musicale Italo-Tedesca. So vertraut war sie Caterina geworden, so sehr war sie
ihr ans Herz gewachsen, dass Roseannas Frisur ihr mittlerweile wie ein
bildschöner Blickfang vorkam.
»Was liest du denn da?«, fragte Caterina.
Roseanna blickte lächelnd auf. »Ein Buch über Psychopharmaka.«
»Warum denn das?«, sagte Caterina. Kaum ein Thema hatte weniger mit
den Aufgaben der Stiftung zu tun als dieses.
»Meine beste Freundin leidet an Depressionen, und ihr Arzt hat ihr
dieses Zeug verschrieben«, sagte Roseanna in einem Ton, der deutlich
durchblicken ließ, was sie davon hielt.
»Und du lehnst das ab?«
Roseanna legte das Buch umgekehrt hin. »Das kann ich nicht sagen.
Ich habe so wenig Ahnung von Medizin oder Arzneimitteln, dass ich manches in
dem Buch hier gar nicht verstehe.«
»Und warum liest du es trotzdem?«, fragte Caterina.
»Wir kennen uns seit der Schule«, sagte Roseanna mit ihrem
lächelnden Achselzucken. »Sie ist meine beste Freundin und hat mich um Rat
gefragt. Also dachte ich, ich informiere mich über das Pro und Contra,
vielleicht kann ich mir irgendwie ein Urteil bilden.«
[244] »Und was hast du bis jetzt rausgefunden?«
»Dass man Statistiken und den veröffentlichten Forschungsergebnissen
nicht trauen darf«, antwortete Roseanna prompt. »Aber das habe ich eigentlich
nie getan; na ja, nicht sehr.«
»Warum?«
»Weil die Hersteller von Medikamenten schlechte Ergebnisse ja nicht
veröffentlichen müssen und weil Medikamente meistens nur im Vergleich mit
Placebos getestet werden, nicht mit anderen Medikamenten.« Sie strich liebevoll
über das Buch. »Was ist einfacher, sagt der Autor, als ein Medikament
herzustellen, das wirksamer als eine Zuckerpille ist?« Sie sah einen Moment ins
Leere, dann fuhr sie fort: »Ich habe nie geraucht, aber bei meinen Freunden habe
ich oft beobachtet, dass sie sich schon entspannen, sobald sie eine Zigarette
nur anzünden. Also könnte man mit einer Testreihe beweisen, dass Rauchen ein
ausgezeichnetes Mittel gegen Stress ist.«
»Besser als eine Zuckerpille?«, fragte Caterina.
»Ich denke schon.« Plötzlich schien Roseanna zu merken, wie weit sie
sich von ihrem eigentlichen Thema entfernt hatten, denn sie fragte: »Wolltest
du nicht in die Marciana?«
Caterina schüttelte den Kopf. »Nein, bevor ich wieder in die
Bibliothek gehe, will ich erst einmal weiter die Papiere lesen, zumindest die
aus der ersten Truhe.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich werde einfach nicht
schlau aus ihm.«
»Weil er Priester war?«
»Nein, das nicht. Sondern weil ich keine rechte Vorstellung habe,
was ihn eigentlich antrieb. Wenn wir jemanden persönlich kennengelernt oder
etwas über ihn gelesen haben, [245] können wir normalerweise sagen, was ihm
wirklich am Herzen liegt. Bei Steffani bin ich mir nicht sicher: Sehnte er sich
verzweifelt nach persönlicher Anerkennung? Wollte er wirklich die Kirche
retten? Zur Musik schreibt er, wie viel Vergnügen ihm das Komponieren bereitet,
aber es kommt ihm nicht darauf an, ein berühmter Komponist zu werden. Das
Komponieren hat ihm viel bedeutet, aber… aber dann hat er es praktisch aufgegeben.
Wenn es wirklich seine größte Leidenschaft
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