Himmlische Juwelen
und schob sich alle auf einmal in den Mund, kaute eine
Weile und spülte sie mit dem letzten Schluck Wein hinunter. Er winkte dem
Kellner, sah Caterina fragend an, aber die schüttelte den Kopf: Sie wollte
keinen Wein mehr.
Das zweite Glas für Sergio kam sofort. Vielleicht wollte der Kellner
Sergio nicht warten lassen, nachdem er mit seinem langen Arm Bekanntschaft
gemacht hatte.
Sergio erhob das Glas in Caterinas Richtung. »Was mache ich jetzt
mit Clara?«
»Du meinst, ob du es ihr erzählen sollst?«
Sergio nickte.
»Du erzählst ihr immer alles, oder?«
Wieder nickte er.
»Dann tu es auch jetzt.«
»Hab ich mir auch gedacht.«
»Aber sag ihr, dass du es für mich getan hast.«
»Meinst du, das macht es besser?«, fragte er. Sergio, das wusste sie
aus langer Erfahrung, neigte zu ebenso strenger Selbstkritik wie sie selbst.
[269] »Du hast einer Verwandten geholfen. Wenn sie sich aufregen will,
dann doch lieber über mich.«
»Wäre nicht das erste Mal, oder?«, fragte er lächelnd.
Caterina nahm ein paar Erdnüsse und fand, noch ein Glas Wein könne
eigentlich nicht schaden.
[270] 27
Obwohl Sergio sie einlud, zum Abendessen mit ihm nach
Hause zu kommen, schreckte Caterina der weite Weg nach San Polo ab. Wie schnell
die venezianischen Eigenheiten doch zurückkamen: Schon mochte sie ihr sestiere nicht mehr verlassen, und eine Einladung nach San
Polo oder Santa Croce kam ihr so strapaziös vor wie eine Expedition zum
Himalaja. Und was, wenn man erst von ihr verlangen würde, den Ponte della
Libertà Richtung terraferma zu passieren? Musste man
dazu nicht einen Pass vorzeigen? Könnte sie sich weigern, aus Angst vor fremdem
Essen und Seuchen?
Sie schüttelte diese Gedanken ab und redete Sergio ein, er könne
Clara das Ganze leichter erklären, wenn sie nicht dabei war.
Vor dem Florian sagte er, er wolle zu Fuß nach Hause gehen, über die
Accademia. Er küsste sie auf beide Wangen, bat sie, wieder anzurufen, wenn sie
ihn brauche, und machte sich auf den Weg zu seiner Familie.
Caterina lief im schwindenden Tageslicht ans Ufer und die Riva
entlang nach Hause. Was waren sie beide für Nieten, sie und Sergio: Beim
kleinsten Zeichen körperlicher Schwäche knickten sie ein. Für Caterina nicht
etwa eine Frage des Prinzips, sondern der Statur.
Bereits zu ihrer Studienzeit war Mina ein Mythos gewesen, aber ihre
Songs waren auch heute noch beeindruckend. Wie Caterina das Cover einer ihrer
Scheiben liebte – schon damals gut dreißig Jahre alt –: Minas Kopf nahtlos auf
dem [271] Körper eines Bodybuilders. Der Kopf – und das Gehirn – einer Frau auf
hundert Kilo Muskelkraft: Mit einem solchen Körper, gaukelte sie sich vor,
hätte sie es zum Chef der musikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
gebracht. Ach was, zum Staatsoberhaupt!
Nun, wo sie wusste, dass Größe und Kraft – zumindest für einen so
anständigen Menschen wie Sergio – auch ein Handicap sein konnten, musste sie
auch diese Illusion begraben. Der Mann war ihr nur gefolgt, weil sein Vater ihm
Angst einjagte, und seine Furcht machte ihn für sie oder Sergio unantastbar. »Mamma mia«, flüsterte sie.
In ihrer Wohnung angekommen, verbrachte sie zwei Stunden mit
Recherchen zu Abbé Montalbano, versuchte, in wissenschaftlichen Werken und
Zeitschriften in vier Sprachen seine Fährte aufzunehmen, und durchstöberte dann
auch noch, obwohl sie wusste, wie aussichtslos das war, die Kataloge, in denen
Hunderttausende online verfügbare Bücher verzeichnet waren. Sie suchte ihn in
historischen Fachzeitschriften und musikwissenschaftlichen Dissertationen, in
diplomatischen Akten kleiner Fürstentümer und in den Memoiren vergessener
Adliger.
Gelegentlich erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihn. 1680
begleitete er Prinz Friedrich August, den Sohn von Ernst August, als Erzieher
auf einer Reise nach Venedig und Rom. Ein Komponist, für den er Libretti
schrieb, bezeichnete ihn in einem Brief als äußerst frommen Mann, allerdings
»auf die abergläubische Art«. Man hielt Montalbano für einen Venezianer, aber
eine Geburtsurkunde war in den Archiven der Stadt nicht aufzutreiben. Jahrelang
lebte er am Hof in Hannover, stets zur Stelle, wenn es darum ging, [272] Ernst August
in Familienangelegenheiten aus der Patsche zu helfen. Von seinem Gehalt war
eigentlich nur die Rede, als er nach Königsmarcks Tod den fürstlichen Betrag –
hier musste Caterina grinsen – von 150000 Talern erhielt, obwohl manche Quellen
von nur
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