Himmlische Juwelen
denn er enthielt das Libretto einer Oper mit dem Titel Il Corragio di Temistocle, die, soweit sie das aus Prolog
und Personenverzeichnis schließen konnte, die Tugenden der Führer der
griechischen Streitkräfte bei der Schlacht von Marathon feierte; es war aber
nicht das Libretto zu Metastasios Oper Temistocle. Caterina ließ das Holpern und Poltern der Verse elf Seiten lang über sich
ergehen, dann gab sie auf.
Außer dem Libretto enthielt der Band nichts. Sie klappte ihn zu,
legte ihn auf den anderen und trug die beiden zu dem Tisch für die Bücher, die
abgeräumt werden sollten. Sie widerstand dem Drang, doch noch einen Blick in
das Libretto zu werfen – aus Furcht, es könnte noch schlimmer werden. Wenn dies
hier ein Musterbeispiel für die späte Opera seria war, so war es kein Wunder,
dass sie schließlich ausgestorben war.
Umso rätselhafter erschien ihr jetzt, als sie am Fenster stand und
zu den Fenstern auf der anderen Seite der Piazzetta hinüberschaute, das Ableben
des Grafen Philipp von Königsmarck und die Identität des Abbé, dessen tödlicher
Stoß ihn zu seinem Schöpfer geschickt hatte.
Ihre Gedanken wanderten vom Schicksal jener verlassenen Frau, die
sich als Aufklärerin fühlte, zu ihrem eigenen einsamen Leben. Sie war in ihrer
Heimatstadt, überall um sie her lebten Verwandte und Freunde, und doch führte
sie das Leben einer Einsiedlerin, zwischen Arbeit und [260] Wohnung und Bett und
Arbeit und Wohnung und Arbeit. Die meisten ihrer Schulfreundinnen waren
verheiratet, hatten Kinder und längst keine Zeit mehr für ihre unverheirateten
Freundinnen und deren eigenbrötlerische Interessen. Dass sie die alten Freunde
links liegenließ, schob sie auf die Dringlichkeit ihrer Arbeit. Sie kam sich
vor wie jene Minenarbeiter, von denen in englischen Romanen so viel die Rede war,
die nur sonntags ans Tageslicht kamen, wenn sie bei Regen und Kälte zur Kirche
gehen mussten, und die im Berg, wo sie wenigstens auf den Boden spucken
konnten, wahrscheinlich glücklicher waren. Auch sie leistete Grubenarbeit, und
ihre Verbindung zur Außenwelt bestand in ihrem Internetkontakt zu Tina,
scheinheilig freundlichen Gesprächen mit einem Mann, der sie hinterging,
gelegentlichen Anrufen oder Besuchen bei ihren Eltern und herzlich wenig
anderem.
Ihre Verbindung zur Außenwelt klingelte, und sie griff freudig zu.
[261] 26
»Cati«, sagte eine Stimme. Sergio. »Ich muss mit dir reden.«
»Neuigkeiten?«, meinte sie fröhlich, bevor sein Tonfall sie
alarmierte. Eine Sekunde zu spät fragte sie: »Ist was passiert?«
Ohne darauf einzugehen, bat er: »Sag mir, wo du bist.«
»In der Marciana.«
»Ich bin am Museo Navale. In zehn Minuten kann ich bei dir sein. Wo
können wir uns treffen?«
»Im Florian. Hinten an der Bar.«
»Gut«, sagte er und legte auf.
Sergios Stimme hörte sich an, als sei er am Boden zerstört. So hatte
sie ihn noch nie gehört, sie machte sich Vorwürfe: Als sie das Schwergewicht
Sergio so vorschnell gebeten hatte, sich den Mann im Laden einmal vorzuknöpfen,
hatte sie sein friedfertiges Wesen völlig außer Acht gelassen. Und wenn der
Mann, der sie in Angst und Schrecken versetzt hatte, nun auch Sergio aufs Korn
nahm? Auf dem Weg zum Florian dachte sie über die möglichen Konsequenzen nach:
Der Unbekannte dürfte, wenn er wie zu vermuten Venezianer war, nicht die
geringsten Schwierigkeiten haben herauszubekommen, wer Sergio war, und wenn er
erst einmal seinen Namen hatte, fand er auch mühelos den Rest: seine Fabrik,
sein Haus, seine Frau, seine Kinder. Seine Schwägerin.
Sie hatte das angestoßen, hatte sich hinter einem Mann [262] und seinen
Muskeln versteckt in der Hoffnung, einen anderen Mann einzuschüchtern, der
dieselben Waffen gegen sie eingesetzt hatte. Und was hatte sie damit erreicht?
Sie hatte die Menschen, die sie am meisten liebte, in Gefahr gebracht. Von
Vorwürfen gequält, sah sie weder die kunstvoll vergoldeten Spiegel noch die mit
Seide bezogenen Stühle und Sofas im Café noch die lächelnd grüßenden Kellner.
Erfüllt von bitterer Reue ging sie nach hinten zur Bar. »Du musst selber für
dich kämpfen«, flüsterte sie, während sie auf einen Barhocker kletterte.
» Scusi, Signorina?«, sagte der Kellner
freundlich. »Non ho capito.« Sie sah ihn verwirrt an.
Nein, niemand würde verstehen, was sie getan hatte und womöglich damit
angerichtet hatte.
»Un caffè«, sagte sie. Sie wollte keinen
Kaffee, noch weniger aber ihre Angst mit Alkohol
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