Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
ebenfalls.« Zum ersten Mal glaubte ich ein Zittern in Inès’ Stimme zu hören. Sie schwieg kurz, dann fuhr sie fort: »Ich war fünfzehn, und Mohammed, der Sohn des Hauses, war achtzehn. Eines Nachts kam er in mein Zimmer, als ich schon schlief. Er sagte, wenn ich es jemandem verrate, werde ich entlassen. Er hat mich vergewaltigt. Ich sagte es seiner Mutter. Sie hat mich hinausgeworfen. Ich ging zur Polizei. Dort hatte niemand für mich Verständnis.«
Schon mit fünfzehn war Inès offenbar erstaunlich eigenwillig. Die Polizei sagte ihr, sie sei »selbst schuld« (als Erstes fragte man sie, ob sie auch keusch gekleidet war), und nachdem die Familie sie entlassen hatte, versuchte sie, eine neue Stelle zu finden. Aber ohne Empfehlungsschreiben wollte niemand sie nehmen. Sie schlief auf der Straße und bettelte um Nahrung. Zweimal wurde sie verhaftet. Beim zweiten Mal wurde sie bei der Polizei gründlich untersucht, und man stellte fest, dass sie schwanger war.
»Die Polizisten riefen meinen Vater an. Er kam mit dem Bus nach Agadir. Eine sechsstündige Fahrt. Aber als er erfuhr, was passiert war, würdigte er mich keines Blickes mehr und fuhr allein zurück nach Hause. Meine Familie trauerte um mich, als wäre ich tot. Meine Briefe kamen ungeöffnet zurück. Meine Mutter schickte mir Geld, nicht viel, aber sie hatte ja auch nur wenig, und schrieb, dass sie mich nie wieder sehen will. Sechs Monate später kam Karim auf die Welt, im Krankenhaus von Agadir.« Wieder bebte Inès’ Stimme leicht, aber gleichzeitig bekam sie einen fast zärtlichen Unterton. »Er war so perfekt. Wunderschön. Ich dachte, wenn meine Eltern ihn sehen, dann …«
»Dann müssen sie ihn einfach lieben«, sagte ich.
Sie nickte. »Ich hatte mich geirrt. Das begriff ich gleich bei meiner Ankunft. Ich hatte Schande über die Familie gebracht. Ich hatte die Möglichkeiten meiner Schwestern zerstört. Nachdem ich nun mein ganzes Geld für die Heimfahrt ausgegeben hatte, fand ich auch hier kein Zuhause. Ich ging zu meinem älteren Bruder, dessen Lieblingsschwester ich immer gewesen war. Er hatte anderthalb Jahre zuvor unsere Cousine Hariba geheiratet. Die beiden waren nicht erfreut, als sie mich sahen, aber sie nahmen mich trotzdem bei sich auf. Doch eines Tages, als meine Schwägerin nicht zu Hause war, sind sie gekommen.«
Sie schwieg lange – bis Omi es schließlich nicht mehr aushielt und fragte: »Wer ist gekommen?«
»Ein Komitee aus Idioten. Mein Onkel. Mein Vater. Meine Brüder. Sie sagten, es wäre besser für mich zu sterben, als in Schande zu leben. Ich sei eine Hure und hätte das Keuschheitsgebot verletzt. Nur durch Blut könne die Schande, die ich über meine Familie gebracht hätte, abgewaschen werden. Wenn ich den hijab getragen hätte, wie es sich gehört, wenn ich mich demütig verhalten hätte, wäre nichts passiert. Und dann …«
Inès löste das Kopftuch und zog den Schleier weg. Und da sah ich sie zum ersten Mal: die Skorpionkönigin, die Frau in Schwarz, die Geisterfrau, der ich schon so lange folgte, dass ich gar nicht mehr wusste, ob sie wirklich war.
Omi stieß einen spitzen Schreckensschrei aus.
Sonia schlug sich die Hand vor den Mund.
Inès blieb ungerührt. Genau wie Zahra. Woraus ich schloss, dass sie Inès nicht zum ersten Mal ohne Schleier sah. Ihre Farben zeigten allerdings eine gewisse Unruhe.
Ich brauchte einen Moment, bis ich richtig erfasste, was ich sah. Ich hatte mir Inès immer sehr schön vorgestellt. Sämtliche Indizien wiesen darauf hin: ihre Körperhaltung, ihre eleganten Bewegungen, die Farbe und Form ihrer grün-goldenen Augen. Darum sah ich erst nur die Frau, die Inès sein könnte. Vielleicht nicht ganz so jung, wie ich geglaubt hatte, aber trotzdem eine attraktive Erscheinung. Die glänzenden Haare, der schön geschwungene Hals, die aparten Wangenknochen, die gewölbten Brauen: jene Art von Schönheit, die selbst mit sechzig, siebzig oder achtzig noch da sein würde, tief in ihr eingebettet, ein kostbarer Diamant.
Doch dann sah ich sie richtig. Es war wie bei einem Trugbild, das erst nach einer Weile sichtbar wird – zwei Liebende, die sich in ein Dämonengesicht verwandeln, ein Profil, aus dem ein Schmetterling auftaucht – und das man dann nie wieder vergisst.
»Sie nennen das ein smiley«, sagte Inès. »Man sieht so etwas gelegentlich. In Tanger, in Marrakesch – auch in Paris oder Marseille. Ein Schnitt mit dem Messer, von hier nach da, von da nach dort.« Mit Zeigefinger und
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