Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Menschen die Wahrheit sagen würden und dass auch wir nichts mit Sicherheit wissen, dann wäre das, was die Kirche in den letzten zweitausend Jahren aufgebaut hat, nicht mehr wert als ein Handvoll Papier und Staub.«
Ich schwieg, um Atem zu holen. Mir wurde jetzt wirklich schwindelig, père. Drei Tage ohne richtigen menschlichen Kontakt – ich war völlig fertig. Ich streckte die Hand in Richtung Gitter, irgendwie dachte ich, dass meine Geschichte glaubwürdiger wäre, wenn Maya mich sehen könnte. Mit größter Mühe schaffte ich es, das Gitter zu berühren.
»Maya. Ich bin hier. Schau mich an.«
Maya drückte die Nase ans Gitter. Rosette ebenfalls, ihre roten Locken leuchteten in der Sonne. Die beiden schauten mich an, zwei ernste Kindergesichter, feierlich und intensiv. Einen Augenblick lang erschienen sie mir wie kleine Richter, die gleich den Urteilsspruch verkünden würden.
»Mein dritter Wunsch …«
Ich ächzte. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, aber mein Hals war zugeschwollen und mein Kopf so schwach, dass nur ein leises Stöhnen herauskam.
Maya fuhr rücksichtslos fort: »Mein dritter Wunsch ist, dass Du’a heimkommt. Das Boot ist wieder da, aber ohne Du’a und ihre memti. Du musst Du’a zurückholen, so wie Hazi. Dann bist du wieder frei. Genau wie Aladin.«
Ich resignierte. Es war aussichtslos. Ich hatte getan, was ich konnte, doch das genügte nicht.
»Tut mir leid«, flüsterte ich, keine Ahnung, warum.
Mayas Gesicht verschwand. Rosette blieb noch ein bisschen. Ich wusste ja, dass es Zeitverschwendung war, mit ihr zu reden, dabei leuchtete in ihren wissbegierigen Vogelaugen eine klare Intelligenz.
»Sag deiner Mutter, dass ich hier bin«, sagte ich zu ihr. »Sag es irgendjemandem. Ich flehe dich an.«
Rosette gab ein leises Glucksen von sich. Hieß das, sie hatte mich verstanden? Dann legte sie die Hand auf das Gitter. Diese Geste kam mir vor wie eine Absolution. Und genau in dem Moment krachte der Kistenstapel unter mir zusammen, und ich landete in dem Wasser, das inzwischen einen Meter hoch war.
Kurz tauchte ich unter. Das Wasser war eiskalt. In meiner Panik strampelte ich verzweifelt, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Dann rappelte ich mich hoch und strich mir die nassen Haare aus dem Gesicht. Entschlossen ging ich zurück zur Treppe.
6
Samstag, 28. August, 10:15 Uhr
Omi war die Einzige, die merkte, dass wir uns entfernten. Als wir in den Boulevard einbogen und die Versammlung am Landesteg hinter uns ließen, glaubte ich zu spüren, dass uns jemand unter einem locker gebundenen Kopftuch beobachtete. Omi Al-Djerba ist zu alt für den niqab, sie hat einmal grinsend zu mir gesagt, in ihrem Alter sei selbst der hijab eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Na ja, sie mag ja alt sein, aber ihre Augen sind immer noch hellwach, und ihre Neugier kennt keine Grenzen. Deshalb wunderte es mich nicht, als ich sah, dass sie uns in einer gewissen Entfernung folgte, den Boulevard entlang, am Haus der Familie Al-Djerba vorbei und zu der Brücke hinüber nach Lansquenet.
Zahra hatte Sonia überredet, mit uns zu kommen. Zuerst zögerte Sonia. Sie wollte Inès nicht treffen. Aber Zahra redete auf Arabisch leise und dringlich auf sie ein. Ich glaubte den Namen Karim herauszuhören. Was Zahra sagte, schien sie zu überzeugen.
Jetzt blickte Sonia über die Schulter. »Omi ist hinter uns.«
»Sie darf uns nicht einholen«, sagte Zahra.
Wir beschleunigten alle drei unseren Schritt. Omi tat so, als wäre sie nicht unseretwegen unterwegs. Sie blieb auf der Brücke stehen und schaute sich um. Aber als wir zum Platz vor der Kirche kamen, sahen wir, dass sie mit gerafften Röcken rannte, so schnell sie konnte, um uns einzuholen.
Es war Viertel nach zehn. Die Messe war zu Ende, aber der Platz war immer noch voller Leute. Ein paar Männer spielten Pétanque auf einem Streifen hinter der Kirche, und vor Poitous Bäckerei standen mindestens zwanzig Kunden Schlange. Einige musterten Zahra und Sonia neugierig, wegen der schwarzen Gewänder. In Les Marauds bewirkt der niqab eine gewisse Unsichtbarkeit, auf dieser Seite des Flusses genau das Gegenteil. Ein schwarzes Gewand zieht alle Blicke auf sich, ein Schleier löst Spekulationen aus. Joline Drou kam mit einer Schachtel aus der Bäckerei, das Band hatte genau den gleichen rosaroten Farbton wie ihr Kirchenkostüm und der Pillbox-Hut. Sie warf uns einen mitleidigen Blick zu und rauschte in einer Wolke Chanel N° 5 an uns vorbei.
Zahra blieb vor der
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