Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Chance gehabt?«
Fassungslos schüttelte Sonia den Kopf. »Ich glaube, du bist ein durch und durch schlechter Mensch«, sagte sie. »Du lässt ihn einfach nicht los. Du hast ihn mit einem Bann belegt, damit er keiner anderen Frau gehören kann. Du tust so superkeusch, so fromm, aber alle wissen, wie du in Wirklichkeit bist. Und wenn du dir einbildest, irgendjemand würde noch glauben, dass du seine Schwester bist …« Sie verstummte, außer Atem und zitternd. Ihr Gesicht war noch blasser als zuvor.
Inès deutete auf die Bodenkissen. »Setz dich hin«, sagte sie nüchtern. »Diese Aufregung ist nicht gut für das Baby.«
Schweigend gehorchte Sonia. Ihre Augen glühten, und sie sah jetzt ganz jung aus, sogar noch jünger als Alyssa, so dass es mir schon schwerfiel zu glauben, dass sie tatsächlich schwanger war.
Dann wandte sich Inès uns anderen zu. Ihre Stimme war hart und kühl. Ich studierte ihre Farben. Keine Spur von Nervosität oder Unruhe. Sie wirkte fast verächtlich, erfüllt von der gelassenen Heiterkeit einer Frau, die jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hat.
»Alle glauben also, dass ich lüge. Dass ich nicht die bin, für die ich mich ausgebe. Dass ich Karims Hure bin und Du’a seine Tochter.«
Keine Reaktion.
Inès fuhr fort: »Ein paar dieser Punkte stimmen, aber auch nur halb. Und ich kann euch versichern, dass ich niemandes Hure bin.«
»Ich wusste es!«, rief Omi schnell. »Du bist seine Frau, stimmt’s?«
Inès schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Sonia. »Warum schleicht er sich dann nachts aus dem Haus, wenn er meint, ich schlafe, und geht zu dir? Warum denkt er an keinen anderen Menschen? Warum ist er völlig durchgedreht, als du verschwunden bist?«
Inès seufzte tief. »Ich habe gehofft, dass ich das alles vermeiden könnte. Ich wollte das, was zwischen mir und Karim liegt, ein für alle Mal begraben und vergessen. Deshalb habe ich versucht, dich vor ihm zu warnen, Sonia, genauso wie ich versucht habe, deine Schwester zu warnen. Aber nun hat der Krieg zwischen Karim und mir zu viele Opfer gefordert. Ich kann nicht länger schweigen. Es tut mir leid, wenn ich jemandem weh tue. Das war noch nie meine Absicht und ist es jetzt erst recht nicht.«
Sonia schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort.«
»Das glaube ich gern.« Inès setzte sich neben sie. »Macht es euch gemütlich«, sagte sie zu uns. »Was jetzt kommt, kann eine Weile dauern.«
Wir setzten uns auf die Kissen. Omi kramte in ihrer Tasche und förderte eine Makrone zutage. »Wenn ich mir das alles anhören soll, brauche ich erst mal eine Stärkung.«
Inès zog die Augenbrauen hoch. »Der alte Mahjoubi würde sagen, du reitest den Esel des Teufels.«
»Den Esel des Teufels oder shaitans Schaf. Ich bin alt. Also, dann leg mal los.«
Inès’ Augen wurden schmal, weil sie sich über Omi amüsierte. »Sehr gut. Ich werde euch nun erzählen, wer ich bin. Aber zuerst muss ich sagen, wer ich nicht bin. Ich bin nicht Karims Schwester. Ich bin auch nicht seine Hure – und schon gar nicht seine Frau. Alhamdulillah. Ich bin seine Mutter.«
7
Samstag, 28. August, 10:25 Uhr
Einen Augenblick lang war es totenstill im Raum. Dann redeten alle durcheinander, stellten Fragen, protestierten. Seine Mutter? Das war doch lächerlich. Und wenn es stimmte, warum hatte sie es dann geheim gehalten? Warum machte sie sich selbst verdächtig, wenn sie doch die Möglichkeit gehabt hätte, akzeptiert und respektiert zu werden?
Als sich alle wieder einigermaßen beruhigt hatten, fing Inès an zu erzählen. Sie hat einen starken Akzent und spricht ein verblüffend förmliches Französisch, mit einer knappen und betont akkuraten Wortwahl, wie man sie erwirbt, wenn man eine Sprache aus Schulbüchern lernt, die seit Jahrzehnten veraltet sind. Ihre wunderschönen Augen waren ausdruckslos, die Stimme trocken wie totes Laub.
»Ich war sechzehn, als ich Karim bekommen habe«, begann sie. »Meine Familie war arm. Wir lebten auf dem Land in Marokko, auf einem Hof. Meine Eltern, drei Brüder, zwei Schwestern und ich. Mit zehn Jahren haben mich meine Eltern in die Stadt geschickt. Ich sollte dort als Dienstmädchen arbeiten. Ich kam nach Agadir zu einer reichen Familie mit drei Kindern. Zwei kleine Töchter und ein Sohn, der älter war als ich. Zuerst dachte ich, ich hätte es gut getroffen. Ich ging in die Schule. Ich lernte lesen und rechnen und Geschichte und Französisch. Kochen und putzen lernte ich
Weitere Kostenlose Bücher