Himmlische Wunder
»Thierry, pass doch auf! Die Pralinen.«
Ich unterdrückte ein Grinsen. Der alte Bock. So langsam wird er aufdringlich. Na ja, mich wundert das nicht im Geringsten. Die Kavaliersfassade mag Vianne getäuscht haben, aber Männer sind berechenbar, wie Hunde, und Thierry Le Tresset ist noch viel berechenbarer als die meisten anderen. Unter dem zur Schau getragenenSelbstbewusstsein ist er extrem unsicher, und die Tatsache, dass Roux aufgetaucht ist, hat diese Unsicherheit noch verstärkt. Er bewacht jetzt sein Territorium, sowohl in der Rue de la Croix, wo seine Macht über Roux ihm einen eigenartigen Kick gibt, was er sich allerdings nicht eingesteht, als auch hier im Le Rocher de Montmartre .
Ich hörte Viannes Stimme leise durch die Tür. »Thierry, bitte! Nicht jetzt.«
Anouk horchte auf. Man konnte ihr nichts ansehen, aber ihre Farben flammten auf. Ich lächelte ihr zu. Sie erwiderte mein Lächeln nicht, sondern schaute zur Tür und machte mit den Fingern eine kleine Lockbewegung. Niemand außer mir würde so etwas registrieren. Vielleicht merkte sie ja selbst nicht einmal, dass sie es machte. Aber im selben Moment packte ein Windstoß die Küchentür, sie ging plötzlich auf und knallte gegen die Wand.
Eine kleine Störung, aber sie genügte. Ich bemerkte in Thierrys Farben ein verärgertes Aufblitzen. Bei Vianne eher Erleichterung. Dieses Drängen ist natürlich neu für sie, sie ist es gewohnt, ihn als eine Art gütigen Onkel zu sehen, zuverlässig, ungefährlich, fast schon ein bisschen langweilig. Von seinen Besitzansprüchen fühlt sie sich überrumpelt, und zum ersten Mal ist sie nicht nur leicht beunruhigt, nein, sie fühlt sich abgestoßen.
Es ist alles wegen Roux, denkt sie. Mit ihm werden auch alle Zweifel verschwinden. Aber die Ungewissheit macht sie gereizt und irrational. Sie küsst Thierry auf den Mund – Schuldgefühle sind in der Sprache der Farben meeresgrün – und schenkt ihm ein übertrieben strahlendes Lächeln.
»Ich mache alles wieder wett«, sagt sie.
Mit zwei Fingern ihrer rechten Hand macht Anouk eine winzige Geste des Wegschickens.
Ihr gegenüber sitzt Rosette auf ihrem kleinen Stuhl und beobachtet alles mit hellen Augen. Sie macht das Zeichen nach – tsk, tsk, verschwinde! Thierry schlägt sich mit der Hand auf den Nacken, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Das Windspiel klimpert –
»Ich muss los.«
Er geht tatsächlich, unbeholfen in seinem schweren Mantel. Als er die Ladentür öffnet, stolpert er fast über die Schwelle. Anouks Hand ist jetzt in der Tasche, in der sie seine Wäscheklammerpuppe aufbewahrt. Sie holt sie heraus, geht zum Schaufenster und stellt die Puppe vorsichtig vor das Haus.
»Tschüss, Thierry«, sagte Anouk.
Rosette macht mit den Fingern ein Zeichen: Tschü-hüss .
Die Tür fällt ins Schloss. Die Kinder lächeln.
Heute zieht es wirklich sehr.
11
S AMSTAG , 8 . D EZEMBER
Na ja, das ist doch immerhin ein Anfang. Die Gewichte verlagern sich. Anouk merkt es wahrscheinlich gar nicht, aber ich registriere es genau. Kleinigkeiten, lieb und freundlich zuerst, aber in kürzester Zeit werden sie dazu führen, dass sie mir gehört.
Sie war heute fast den ganzen Tag im Laden, spielte mit Rosette, half mit – und wartete auf eine Chance, ihre neuen Wäscheklammerpuppen auszuprobieren. Als am späten Vormittag Madame Luzeron mit ihrem putzigen kleinen Hund hereinkam, obwohl es eigentlich gar nicht ihr Tag war, bot sich wieder eine Gelegenheit.
»Sie kommen schon heute?« Ich lächelte Madame Luzeron zu. »Ich glaube, wir müssen irgendetwas richtig machen.«
Mir fiel auf, dass ihr Gesicht ziemlich verhärmt aussah. Außerdem trug sie ihren Friedhofsmantel, was bedeutete, dass sie wieder dort gewesen war. Vielleicht ein besonderer Tag – ein Geburtstag oder ein Jahrestag –, auf jeden Fall wirkte sie müde und irgendwie zerbrechlich, und ihre behandschuhten Hände zitterten vor Kälte.
»Nehmen Sie doch Platz«, lud ich sie ein. »Ich bringe Ihnen eine Schokolade.«
Madame zögerte.
»Ich glaube, lieber nicht«, sagte sie.
Anouk warf mir einen verstohlenen Blick zu, und ich sah, wie sie Madames Puppe herauszog, die mit dem verführerischen Zeichen der Herrin des Blutmondes markiert war. Ein Stück Modelliermasse diente als Haltefläche, und innerhalb einer Sekunde stand Madame Luzeron – oder wenigstens ihre Doppelgängerin – im Adventshausund schaute hinaus auf den See mit seinen Schlittschuhläufern und den
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