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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Schokoladenenten.
    Zuerst schien sie es nicht zu merken, doch dann wanderte ihr Blick, vielleicht zu dem Kind mit dem rosig strahlenden Gesicht, vielleicht zu dem Haus im Fenster, das jetzt seltsam schimmerte.
    Ihr vorwurfsvoll verkniffener Mund entspannte sich ein wenig.
    »Wissen Sie, ich hatte als Kind auch ein Puppenhaus«, sagte sie und spähte ins Schaufenster.
    »Wirklich?«, sagte ich und lächelte Anouk zu. Es kommt nicht oft vor, dass Madame freiwillig eine Information preisgibt.
    Sie nippte an ihrer Schokolade. »Ja. Es hatte schon meiner Großmutter gehört, und obwohl ich es geerbt habe, als sie gestorben ist, durfte ich nie damit spielen.«
    »Warum nicht?«, fragte Anouk und drückte den kleinen Wollhund fest an das Kleid der Puppe.
    »Ach, es war zu wertvoll. Ein Antiquitätenhändler hat mir einmal hunderttausend Francs dafür geboten, und außerdem war es ein Erbstück. Kein Spielzeug.«
    »Und deshalb konnten Sie nie damit spielen? Das ist nicht fair«, sagte Anouk, die jetzt vorsichtig eine grüne Zuckermaus unter einen Papierbaum platzierte.
    »Ich war ja noch klein«, sagte Madame Luzeron. »Vielleicht hätte ich es kaputt gemacht oder –«
    Sie unterbrach sich. Ich blickte auf und sah, dass sie erstarrt war.
    »Wie eigenartig«, murmelte sie. »Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr daran gedacht. Und als Robert damit spielen wollte –«
    Mit einer raschen, mechanischen Bewegung stellte sie ihre Tasse ab.
    »Es war wirklich nicht fair, stimmt’s?«, sagte sie.
    »Ist alles in Ordnung, Madame?«, fragte ich. Ihr schmales Gesicht war kreideweiß, die Falten sahen aus wie tiefe, feine Risse im Zuckerguss.
    »Ja, alles bestens, danke.« Ihre Stimme war kühl.
    »Möchten Sie ein Stück Schokoladenkuchen?« Das war Anouk.Sie schien ehrlich besorgt, und sie ist ja sowieso immer bereit, etwas zu verschenken. Madame schaute sie mit hungrigen Augen an.
    »Danke, mein Kind, sehr gern«, sagte sie.
    Anouk schnitt ein großzügiges Stück ab. »Robert – hieß so Ihr Sohn?«, fragte sie.
    Madame nickte stumm.
    »Wie alt war er, als er gestorben ist?«
    »Dreizehn«, antwortete Madame. »Ein bisschen älter als du vielleicht. Sie haben nie herausgefunden, was ihm gefehlt hat. So ein gesunder Junge. Ich habe ihm nie erlaubt, Süßigkeiten zu essen – und dann, auf einmal war er tot. Man würde denken, so etwas gibt es nicht, stimmt’s?«
    Anouk nickte, mit großen Augen.
    »Heute ist der Jahrestag«, fuhr sie fort. » 8 . Dezember 1979 . Lange bevor du auf die Welt gekommen bist. Damals konnte man noch einen Grabplatz auf dem großen Friedhof bekommen – wenn man bereit war, genug Geld hinzublättern. Ich wohne seit einer Ewigkeit hier. Meine Familie hat Geld. Ich hätte ihm erlauben können, mit dem Puppenhaus zu spielen, wenn ich gewollt hätte. Hast du denn ein Puppenhaus?«
    Jetzt schüttelte Anouk den Kopf.
    »Ich habe es noch, es steht irgendwo oben auf dem Speicher. Sogar die passenden Püppchen habe ich noch und die winzigen Möbelstücke. Alles handgemacht, aus bestem Material. Venezianische Spiegel an den Wänden. Das Haus stammt aus der Zeit vor der Revolution. Ich frage mich, ob je ein Kind mit dem verdammten Ding spielen wird.«
    Ihre Wangen röteten sich, als würde die Verwendung eines verbotenen Wortes ihr blutleeres Gesicht beleben.
    »Vielleicht würdest du ja gern mal damit spielen.«
    Anouks Augen leuchteten. »Das wäre toll!«
    »Ich würde mich freuen, mein Kind.« Sie runzelte die Stirn. »Dabei fällt mir ein – ich weiß ja gar nicht, wie ihr alle heißt. Ich heiße Isabelle – und meine kleine Hündin heißt Salambô. Du kannst sie gern mal streicheln, wenn du möchtest. Sie beißt nicht.«
    Anouk beugte sich hinunter, um den kleinen Hund zu streicheln, der mit dem Schwanz wedelte und ihr begeistert die Hand ableckte. »Sie ist so niedlich. Ich liebe Hunde.«
    »Ich kann es nicht fassen, dass ich seit Jahren hierher komme und nie gefragt habe, wie alle heißen.«
    Anouk grinste. »Ich heiße Anouk«, sagte sie. »Und das ist meine Freundin Zozie.« Und sie streichelte immer weiter den kleinen Hund und war so damit beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, dass sie Madame den falschen Namen genannt hatte und dass das Zeichen der Herrin des Blutmondes hell aus dem Adventshaus herausleuchtete und das ganze Schaufenster erhellte.

12

    S ONNTAG , 9 . D EZEMBER
    Der Wetterbericht hat gelogen. Es hieß, es würde schneien. Der Typ sagte, es wird kalt, aber bis jetzt hatten

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