Himmlische Wunder
wir nur Nebel und Regen. Im Adventshaus ist das Wetter besser – dort ist es echt weihnachtlich, und im Freien ist alles eisig und gefroren, wie man es sich vorstellt: Vom Dach hängen Eiszapfen aus Zuckerguss, und auf dem gefrorenen See liegt eine neue Schicht Puderzuckerschnee. Ein paar Wäscheklammerpuppen fahren Schlittschuh, und drei Kinder (das sollen Rosette, Jean-Loup und ich sein) bauen ein Iglu aus Zuckerwürfeln, während ein Mann (Nico) auf einem Streichholzschachtel-Schlitten einen Weihnachtsbaum zum Haus hinaufzieht.
Ich habe diese Woche jede Menge Puppen gebastelt. Ich verteile sie rund um das Adventshaus, so dass jeder sie sehen kann, ohne wirklich zu merken, wozu sie da sind. Das Basteln macht Spaß, man kann die Gesichter mit Filzstift malen, und Zozie hat mir eine Schachtel mit Stoffresten und Bändern gegeben, aus denen ich Kleider und andere Sachen fabrizieren kann. Bis jetzt habe ich: Nico, Alice, Madame Luzeron, Rosette, Roux, Thierry, Jean-Loup, Maman und mich.
Ein paar sind noch nicht ganz fertig. Dafür braucht man etwas von der Person selbst, ein Haar, einen Fingernagel oder etwas, was die Person berührt oder getragen hat. Das ist gar nicht immer so einfach. Und dann muss man den Puppen einen Namen und ein Symbol geben und ihnen ihr spezielles Geheimnis ins Ohr flüstern.
Bei manchen Leuten ist das kein Problem. Es gibt Geheimnisse, die man leicht erraten kann, wie zum Beispiel bei Madame Luzeron, die immer traurig ist wegen ihres Sohnes, obwohl es schon so lange her ist, dass er gestorben ist; oder bei Nico, der abnehmen möchte und es nicht schafft, und bei Alice, die abnehmen kann, aber nicht soll.
Die Namen und Symbole, die wir nehmen, stammen aus Mexiko, sagt Zozie. Die Namen bedeuten alles Mögliche, glaube ich, aber wir verwenden sie, weil sie interessant klingen, und die entsprechenden Symbole kann man sich ganz gut merken.
Es gibt jede Menge Symbole, und bestimmt dauert es noch eine ganze Weile, bis ich sie alle auswendig kann. Außerdem vergesse ich manchmal, wie sie heißen – die Namen sind so lang und kompliziert, und ich kann ja auch die Sprache nicht. Aber Zozie sagt, das macht nichts, wenn ich nur weiß, was das Symbol bedeutet. Da ist der Maiskolben, der Glück bringt, Zwei-Hase, der Wein aus der Maguey-Agave macht, die Gefiederte Schlange, das Zeichen der Macht, Sieben-Papagei, für Erfolg, Eins-Affe, der Schwindler, dann der Rauchende Spiegel, der einem Dinge zeigt, die andere Leute nicht unbedingt sehen, Die mit dem Jaderock, die für Mütter und Kinder sorgt, Eins-Jaguar, für Mut und als Schutz vor Unheil, und Die mit dem Mondhasen – das ist mein Zeichen –, für Liebe.
Jeder hat ein besonderes Zeichen, sagt Zozie. Ihres ist Eins-Jaguar. Mamans Zeichen ist Ehecatl, der Wind. Ich glaube, sie sind so wie die Totems, die wir früher hatten, bevor Rosette auf die Welt kam. Rosettes Zeichen ist der Rote Tezcatlipoca, der Affe. Er ist ein frecher Gott, aber sehr mächtig, und er kann sich in jedes Tier verwandeln.
Ich mag die alten Geschichten, die Zozie mir erzählt. Aber ich werde trotzdem manchmal nervös, ob ich will oder nicht. Ich weiß, sie sagt, wir schaden niemandem – aber was ist, wenn sie sich irrt? Wenn es doch einen Unfall gibt? Oder wenn ich das falsche Zeichen nehme und etwas Schlimmes passiert, obwohl ich es gar nicht beabsichtigt habe?
Der Fluss. Der Wind. Die Wohlwollenden.
Immer wieder fallen mir diese Wörter ein. Und sie haben alle irgendetwas mit der Weihnachtskrippe auf der Place du Tertre zu tun – mit den Engeln, den Tieren und den Weisen aus dem Morgenland –, aber ich weiß immer noch nicht, warum. Manchmal glaube ich, gleich kann ich es sehen, aber sicher bin ich mir nie, es ist wie im Traum, wenn einem alles total logisch vorkommt, bis man aufwacht, und dann löst sich alles in nichts auf.
Der Fluss. Der Wind. Die Wohlwollenden.
Was bedeuten diese Wörter? Wörter aus einem Traum. Aber ich habe immer noch Angst und weiß nicht, warum. Wovor fürchte ich mich? Vielleicht sind die Wohlwollenden wie die Heiligen Drei Könige, wie die Magier: weise Männer, die Geschenke bringen. Das klingt einleuchtend, aber die Angst geht nicht weg, und ich denke immer, bald passiert etwas Schlimmes. Und irgendwie bin ich schuld daran.
Zozie sagt, ich soll mir keine Gedanken machen. Wir können keinem wehtun, wenn wir es nicht wollen, sagt sie. Und ich will niemandem wehtun – nicht einmal Chantal, nicht einmal Suze.
Neulich abends
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