Himmlische Wunder
alles auf dem Kaminsims ebenfalls tanzte – Zozies Schuhe, die sie dort aufgereiht hat, aber sie sind viel cooler als Porzellanfiguren oder so was –, und ich fand das alles so total natürlich, wir drei, wie wir da zusammen herumhüpften, und plötzlich bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil Maman allein unten in der Küche war. Wenn wir hier oben sind, kann es leicht passieren, dass wir sie vergessen.
»Hast du dich schon mal gefragt, wer ihr Vater ist?«, fragte Zozie auf einmal und schaute mich an.
Ich zuckte die Achseln. Ich habe nie verstanden, wieso mich das interessieren soll. Wir haben einander. Ich wollte nie noch jemanden dazu.
»Es ist nur so, dass du ihn wahrscheinlich kennst«, sagte sie. »Du warst damals sechs oder sieben, und ich habe mir überlegt –« Sie schaute auf ihr Armband und spielte mit den Glücksbringern, die daran hingen, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas sagen wollte, sich aber nicht ganz sicher war, ob sie es nicht lieber für sich behalten soll.
»Was?«, fragte ich.
»Na ja – schau dir ihre Haare an.« Sie legte Rosette die Hand auf den Kopf. Ihre Haarfarbe erinnert an Mangoscheiben, und sie hat ganz weiche Locken. »Schau dir ihre Augen an –« Ihre Augen sind auffallend hellgrün, wie bei einer Katze, und so rund wie Centmünzen.
Ich überlegte.
»Denk doch mal nach, Nanou. Rote Haare, grüne Augen. Kann manchmal eine Nervensäge sein –«
»Aber du meinst doch nicht Roux?« Ich musste lachen, aber auf einmal wurde ich innerlich ganz zittrig und wünschte mir, sie würde nicht weiterreden.
»Warum nicht?«, sagte sie.
»Weil ich weiß, dass er’s nicht ist.«
Eigentlich habe ich noch nie viel über Rosettes Vater nachgedacht. In meinem Hinterkopf habe ich immer noch die Vorstellung, dass sie gar keinen hat und dass die Feen sie gebracht haben, so wie die alte Frau immer gesagt hat.
Feenkind. Wunderkind.
Ich meine, es ist nicht fair, was die Leute denken – dass sie dumm ist oder behindert oder zurückgeblieben. Wunderkind , haben wir immer gesagt. Etwas Besonderes – das heißt: anders. Maman will nicht, dass wir anders sind – aber Rosette ist anders, und ist das denn so schlimm?
Thierry redet dauernd davon, dass sie Hilfe braucht. Eine Therapie, Sprecherziehung, lauter Spezialisten – als wüssten dieseSpezialisten, wie man jemanden davon heilen kann, dass er etwas Besonderes ist.
Aber dafür gibt es gar keine Kur. Das hat Zozie mir beigebracht. Und wie könnte Roux Rosettes Vater sein? Ich meine – er hat sie ja vorher noch nie gesehen. Er wusste nicht mal, wie sie heißt.
»Er kann gar nicht Rosettes Vater sein«, sagte ich, obwohl ich mir inzwischen nicht mehr sicher war.
»Wer käme denn sonst infrage?«
»Keine Ahnung. Aber auf keinen Fall Roux.«
»Weshalb nicht?«
»Weil er dann bei uns geblieben wäre, deshalb. Er hätte uns nicht gehen lassen.«
»Vielleicht hat er es gar nicht gewusst«, sagte sie. »Vielleicht hat deine Mutter es ihm nie gesagt. Schließlich hat sie dir ja auch nichts gesagt.«
Da fing ich an zu weinen. Blöd, ich weiß. Ich ärgere mich immer, wenn ich weinen muss, aber ich konnte nichts dagegen machen. Es war wie eine Explosion in mir, und ich wusste nicht, ob ich Roux jetzt hasste oder ob ich ihn sogar noch lieber hatte.
»Sch, sch. Nanou.« Zozie legte den Arm um mich. »Alles ist gut.«
Ich schmiegte mein Gesicht an ihre Schulter. Sie hatte einen ausgebeulten alten Pullover an, und das Strickmuster drückte sich in meine Wange. Es ist nicht alles gut , wollte ich schreien. Das sagen die Erwachsenen nämlich immer, wenn sie nicht wollen, dass Kinder die Wahrheit erfahren. Und meistens ist es eine Lüge.
Erwachsene lügen anscheinend immer.
Ich schluchzte so furchtbar, dass es mich richtig schüttelte. Wie kann Roux Rosettes Vater sein? Sie kennt ihn doch gar nicht. Sie weiß nicht einmal, dass er seine Schokolade ohne Sahne trinkt, nur mit Rum und braunem Zucker. Sie hat noch nie gesehen, wie er eine Fischfalle aus Weidenruten baut oder aus einem Stück Bambus eine Flöte schnitzt, und sie weiß auch nicht, dass er alle Vogelstimmen auf dem Fluss unterscheiden kann und sie so gut nachmacht, dass nicht einmal die Vögel den Unterschied merken.
Er ist ihr Vater, und sie hat keine Ahnung.
Das ist nicht fair. Er müsste mein Vater sein.
Aber jetzt spürte ich, wie etwas anderes zurückkam. Eine Erinnerung – ein Klang, den ich genau kannte –, ein Geruch von ganz weit her. Das Bild
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