Himmlische Wunder
kam näher, wie der Stern über der Krippe. Und ich konnte mich fast erinnern – aber ich wollte mich nicht erinnern. Ich machte die Augen zu. Ich konnte mich kaum rühren. Auf einmal dachte ich: Wenn ich mich bewege, dann kommt alles aus mir herausgesprudelt, wie ein Getränk mit Kohlensäure, wenn jemand die Flasche geschüttelt hat, und wenn die Flasche erst einmal offen ist, kriegt man sie nie wieder zu –
Ich begann zu zittern.
»Was ist los?«, fragte Zozie.
Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht sprechen.
»Wovor hast du Angst, Nanou?«
Ich hörte, wie die Anhänger an ihrem Armband klimperten. Es klang ganz ähnlich wie das Windspiel über unserer Tür.
»Vor den Wohlwollenden«, flüsterte ich.
»Was heißt das – vor den Wohlwollenden ?«
Ich hörte den drängenden Unterton in ihrer Stimme. Sie legte mir die Hände auf die Schultern, und ich spürte richtig, dass sie es unbedingt wissen wollte, es bebte richtig in ihr.
»Hab keine Angst, Nanou«, sagte sie. »Sag mir einfach, was es ist, okay?«
Die Wohlwollenden.
Die Magier.
Weise Männer, die Geschenke bringen.
Ich gab einen komischen Ton von mir. So ein Geräusch, wie man es macht, wenn man aus einem Traum aufwachen will, es aber irgendwie nicht schafft. Unzählige Erinnerungen stürzten auf mich ein, umzingelten mich, schubsten mich herum und wollten alle gleichzeitig gesehen werden.
Das kleine Haus am Ufer der Loire.
Sie schienen so nett, so besorgt.
Sie hatten sogar Geschenke gebracht.
Und in dem Moment riss ich plötzlich die Augen ganz weit auf. Ich hatte keine Angst mehr. Endlich konnte ich mich erinnern. Ich begriff. Ich wusste wieder, was passiert war. Weshalb wir uns verändert hatten. Weshalb wir weggelaufen waren, sogar vor Roux. Weshalb wir so taten, als wären wir normale Menschen, während wir doch eigentlich wussten, dass wir das gar nicht sein konnten.
»Was ist, Nanou? Kannst du es mir jetzt sagen?«
»Ich glaube, ja.«
»Dann sag es mir«, sagte Zozie und lächelte. »Sag mir alles.«
1
M ONTAG , 10 . D EZEMBER
Und jetzt kommt er endlich, der Dezemberwind, er fegt durch die engen Straßen und reißt zum Jahresende die letzten Blätter von den Zweigen. Dezember, Dezember, nimm dich in acht, Er bringt dir Verzweiflung, er bringt dir die Nacht , wie meine Mutter immer sagte, und wieder einmal hat man das Gefühl, als würde jetzt, da das Jahr zu Ende geht, eine Seite umgeblättert.
Eine Seite – eine Karte – der Wind, vielleicht. Und der Dezember war schon immer eine schlimme Zeit für uns. Der letzte Monat, der Bodensatz des Jahres, so kriecht er dem Weihnachtsfest entgegen, und sein Mantel aus Lametta schleift durch den Matsch. Die Sackgasse des Jahres erwartet uns, die Bäume sind fast kahl, das Licht ist wie verkohltes Zeitungspapier, und alle meine Gespenster kommen hervor, um wie Glühwürmchen am geisterhaften Himmel zu tanzen.
Wir kamen mit dem Karnevalswind. Mit dem Wind der Veränderung, der Verheißung. Mit dem heiteren Wind, dem Zauberwind, der aus allen Menschen Schnapphasen macht, samt Blütenblättern, Frack und Hut, und man eilt in übermütiger Vorfreude dem Sommer entgegen.
Anouk war ein Kind dieses Windes. Ein Sommerkind, ihr Totem war das Kaninchen – munter, mit leuchtenden Augen, vorwitzig.
Meine Mutter glaubte an Totems. Ein Totem ist mehr als nur ein unsichtbarer Freund, es enthüllt die Geheimnisse des Herzens, den Geist, die verborgene Seele. Mein Totem war eine Katze, das behauptete sie jedenfalls – vielleicht im Gedanken an das Babyarmband mit dem kleinen Silberanhänger. Katzen sind von Natur aus heimlichtuerisch. Katzen haben eine gespaltene Persönlichkeit. Katzen rennen beim ersten Windstoß verängstigt davon. Katzen können die Geisterwelt sehen und bewegen sich zwischen Licht und Dunkel.
Der Wind blies stärker, und wir flohen. Nicht zuletzt wegen Rosette. Ich hatte gleich gewusst, dass ich schwanger bin, und wie eine Katze trug ich mein Kind heimlich aus, weit weg von Lansquenet.
Aber dann kam der Dezember, und der Wind hatte gedreht und das Jahr aus dem Licht ins Dunkel geführt. Bei der Schwangerschaft mit Anouk hatte ich keinerlei Probleme gehabt. Mein Sommerkind kam mit der Sonne, um vier Uhr fünfzehn, an einem strahlenden Junimorgen, und gleich als ich sie sah, wusste ich, sie gehört mir, mir allein.
Aber Rosette war anders, von Anfang an. Ein kleines, kraftloses, unruhiges Baby, das nicht gestillt werden wollte und das mich anschaute, als
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