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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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einer Frau, von der er behauptete, sie sei Krankenschwester. Aber als Anouk mir erzählte, welche Fragen sie gestellt hatte, kam mir der Verdacht, dass sie eine Sozialarbeiterin sein musste. Ich war nicht da, als sie vorbeischauten. Paul hatte mich nach Angers gefahren, damit ich für Rosette Milch und Windeln kaufen konnte – aber Anouk war zu Hause, und Rosette lag oben in ihrem Bettchen, und die beiden Besucher brachten einen ganzen Korb Lebensmittel mit, und sie waren so wohlwollend und teilnahmsvoll, sie erkundigten sich nach mir, als wären sie meine besten Freunde, und meine zutrauliche kleine Anouk erzählte ihnen in ihrer Unschuld viel mehr, als klug war.
    Sie erzählte ihnen von Lansquenet-sous-Tannes und von unseren Reisen auf der Garonne mit den Flusszigeunern. Sie erzählte ihnen von der Chocolaterie und von dem Fest, das wir organisiert hatten. Sie erzählte ihnen vom Julfest und von den Saturnalien, vom Eichenkönig und vom Stechpalmenkönig und von den beiden großen Winden, die das Jahr unter sich aufteilen. Als die Gäste sich für die roten Beutelchen über der Tür und für die Untertassen mit Brot und Salz auf der Schwelle interessierten, erzählte Anouk ihnen von Feen und von kleinen Göttern, von Tiertotems und von Kerzenlichtritualen und dass man den Mond zu sich rufen und für den Wind singen kann, sie erzählte von Tarotkarten und Katzenbabys –
    Katzenbabys?
    »Ja, ja, genau«, erwiderte mein Sommerkind. »Rosette ist ein Katzenbaby, und deshalb mag sie Milch. Und deshalb schreit sie die ganze Nacht wie eine Katze. Aber das ist okay. Sie braucht nur ein Totem. Wir warten noch darauf, dass eines kommt.«
    Ich kann mir vorstellen, was die beiden gedacht haben. Geheimnisse und Rituale, ein ungetauftes Baby, Kinder, die bei fremden Menschen gelassen werden oder noch Schlimmeres …
    Er fragte sie, ob sie mitkommen wolle. Klar, er hatte kein Recht dazu. Er sagte, bei ihm sei sie in Sicherheit und er werde während der ganzen Ermittlungen auf sie aufpassen. Er hätte sie vielleicht sogar überredet, wäre nicht zufällig Framboise vorbeigekommen, um nach Rosette zu schauen. Als sie eintrat, saßen die beiden mit Anouk in der Küche. Das Kind war den Tränen nahe, während der Priester und die Frau sehr ernst auf sie einredeten, sie sagten, sie wüssten, sie habe Angst, aber sie sei ja nicht allein, es gebe Hunderte von Kindern, denen es genauso gehe wie ihr, und sie könne gerettet werden, wenn sie sich ihnen anvertraue.
    Tja, Framboise setzte dem Spuk ein Ende. Sie schickte die beiden weg, ohne lange zu fackeln, dann kochte sie Tee für Anouk und Milch für Rosette. Als Paul mich nach Hause brachte, war sie noch da und erzählte mir von dem Besuch.
    »Diese Leute sollten erst mal vor ihrer eigenen Tür kehren«, schimpfte sie, während sie ihren Tee trank. »Sie suchen nach Teufeln unterm Bett. Ich habe ihnen gesagt, man muss doch nur ihr Gesicht ansehen –« Mit einer Kopfbewegung zeigte sie auf Anouk, die jetzt stumm mit Pantoufle spielte. »Sieht so ein Kind aus, das in Gefahr ist? Sieht die Kleine aus, als hätte sie Angst?«
    Ich war ihr natürlich dankbar. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass die beiden wiederkommen würden. Und dann womöglich mit offiziellen Papieren, mit irgendeinem Durchsuchungsbefehl oder um mich zu verhören. Ich wusste, dass Père Leblanc nicht aufgeben würde, dass dieser wohlwollende, freundliche, gefährliche Mann mir bis ans Ende der Welt folgen würde, wenn er die Möglichkeit dazu hatte.
    »Wir reisen morgen ab«, erklärte ich schließlich.
    Anouk protestierte. »Nein! Nicht schon wieder!«, jammerte sie.
    »Wir müssen weg, Nanou. Diese Menschen –«
    »Warum wir? Warum müssen immer wir weggehen? Warum bläst der Wind nicht zur Abwechslung mal die anderen weg?«
    Ich schaute zu Rosette, die in ihrem Bettchen schlief. Dann zu Framboise, deren Gesicht so faltig wie ein Winterapfel war, dann zu Paul, der still zugehört hatte und dessen Schweigen mehr sagte als tausend Worte. Und dann sah ich irgendetwas aus dem Augenwinkel – vielleicht war es auch nur Einbildung, ein Funke aus dem Kamin.
    »Der Wind nimmt zu«, sagte Paul, der am Kamin stand und horchte. »Es würde mich nicht wundern, wenn’s ein Unwetter gibt.«
    Jetzt hörte ich es ebenfalls. Die letzte Attacke des Dezemberwinds. Die ganze Nacht hörte ich seine Stimme, klagend, stöhnend, lachend. Rosette war extrem unruhig, also hatte ich sie die ganze Nacht bei mir und nickte nur

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