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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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mörderische Eiszapfen aus Zuckerguss hängen an den Zweigen.
    Thierry steht direkt darunter, und ein Schneemann aus dunkler Schokolade, groß wie ein Bär, betrachtet ihn drohend aus dem Wald in der Nähe.
    Ich schaue mir die kleine Puppe näher an. Sie sieht eindeutig aus wie Thierry, seine Kleidung, seine Haare, sein Handy, irgendwie sogar sein Gesichtsausdruck, obwohl er nur ganz knapp skizziert ist mit einem Strich und zwei Punkten für die Augen.
    Und da ist noch etwas. Ein Spiralsymbol im Zuckerschnee, von einer kleinen Kinderfingerspitze gemalt. Ich habe es schon einmal gesehen, in Anouks Zimmer, auf ihrem Notizbrett, mit Farbstift auf einen Block gekritzelt, hundert Mal mit Knöpfen und Puzzlestücken auf dem Fußboden hier, der jetzt auch in diesem unleugbaren Glanz erstrahlt.
    Und nun beginne ich zu verstehen. Die Zeichen unter der Theke. Die Medizinsäckchen, die über der Tür hängen. Der endlose Strom von Kunden, die vielen Freunde, die ganzen Veränderungen, die in den vergangenen Wochen hier stattgefunden haben. Das ist mehr als nur ein Kinderspiel. Dahinter steckt eine Strategie, es ist ein geheimer Feldzug, und gekämpft wird um ein Terrain, von dem ich nicht einmal wusste, dass es angegriffen wird.
    Und wer ist der General, der diesen Feldzug führt?
    Muss ich diese Frage überhaupt noch stellen?

4

    F REITAG , 21 . D EZEMBER
    Wintersonnwende
    Es ist immer verrückt am letzten Schultag. Im Unterricht wird gespielt oder aufgeräumt, in manchen Fächern wird gefeiert, es gibt Kuchen und Weihnachtskarten; manche Lehrer, die das ganze Jahre nicht gelächelt haben, tragen Weihnachtsmannmützen oder Ohrringe, die aussehen wie Christbaumschmuck, und andere verteilen Süßigkeiten.
    Chantal und Co. halten schon die ganze Zeit Distanz. Letzte Woche sind sie in die Schule zurückgekommen, aber sie sind nicht mehr halb so beliebt wie vorher. Vielleicht liegt das an der Flechte. Suzes Haare sind nachgewachsen, aber sie trägt immer noch die ganze Zeit ihre Mütze. Chantal sieht okay aus, finde ich, aber Danielle, die so gemeine Sachen über Rosette gesagt hat, sind alle Haare ausgegangen. Und sogar die Augenbrauen. Die vier können unmöglich wissen, dass ich das gemacht habe – aber sie gehen mir trotzdem aus dem Weg, wie Schafe, die einen elektrischen Zaun meiden. Keine Spiele mehr, bei denen ich Es sein muss. Keine Gemeinheiten mehr. Keine Witze über meine Haare, keine Besuche in der Chocolaterie . Mathilde hat gehört, wie Chantal zu Suze sagte, ich sei ihr »unheimlich«. Jean-Loup und ich lachten wie verrückt. »Unheimlich«. Also ehrlich, wie lasch kann man eigentlich sein?
    Aber jetzt sind es nur noch drei Tage – und von Roux immer noch keine Spur. Ich habe die ganze Woche nach ihm gesucht, aber niemand hat ihn gesehen. Heute bin ich sogar zur Pension gegangen, aber dort war weit und breit kein Mensch, und in der Rue de Clichy sollte man nicht allzu lange herumstehen – vor allemjetzt, wenn es so früh dunkel wird. Überall sind die Gehwege vollgekotzt, und die Betrunkenen schlafen zusammengerollt in den mit Eisengittern verrammelten Ladeneingängen.
    Aber ich habe gedacht, er würde wenigstens gestern Abend auftauchen – zu Rosettes Geburtstag, wenn er schon sonst nie da ist –, aber er kam natürlich nicht. Ich vermisse ihn so! Irgendwie denke ich immer, dass etwas nicht stimmt. Hat er gelogen, als er mir von dem Boot erzählt hat? Hat er tatsächlich den Scheck gefälscht? Ist er endgültig fort? Thierry sagt, wenn er einigermaßen bei Verstand ist, lässt er sich nie mehr bei uns blicken. Zozie sagt, er ist vielleicht noch da und versteckt sich irgendwo in der Nähe. Maman sagt gar nichts.
    Ich habe Jean-Loup alles erzählt. Von Roux und Rosette und dem ganzen Chaos. Ich habe ihm gesagt, dass Roux mein bester Freund ist und dass ich jetzt Angst habe, er könnte für immer fort sein, und da hat Jean-Loup mich geküsst und gesagt, er ist mein Freund.
    Es war nur ein Kuss. Nichts irgendwie Krasses. Aber jetzt friere ich immer, und es kribbelt mich, als würde in meinem Bauch eine Triangel spielen oder so was, und ich denke, vielleicht –
    O Mann.
    Er sagt, ich soll mit Maman reden und versuchen, alles mit ihr zu besprechen, aber sie hat immer so viel zu tun, und manchmal ist sie beim Abendessen ganz still und schaut mich so traurig und enttäuscht an, als hätte ich etwas tun müssen, was ich nicht getan habe, und ich weiß nicht, was ich machen soll, damit alles wieder gut

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