Himmlische Wunder
einzutreiben.
Heute Nachmittag kam Anouk wie immer von der Schule, ohne sich zu melden, ich hörte sie nur die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufrennen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann sie mich das letzte Mal so begrüßt hat wie früher, wann sie das letzte Mal zu mir in die Küche kam und mich umarmte und küsste und sofort anfing zu schnattern. Ich sagte mir, dass ich viel zu empfindlich bin. Aber es gab einmal eine Zeit, da hätte sie es nie und nimmer vergessen, mich zu küssen, so wenig wie sie Pantoufle vergessen hätte.
Ja, im Moment würde ich mich sogar darüber freuen. Ich wäre so dankbar, wenn ich Pantoufle kurz zu sehen bekäme, wenn Anouk ein paar Worte mit mir wechseln würde. Irgendein Zeichen, dass das Sommerkind, das ich kannte, nicht vollständig verschwunden ist. Aber ich habe Pantoufle seit Tagen nicht mehr gesehen, und Anouk hat kaum mit mir gesprochen –, weder über Jean-Loup Rimbault noch über ihre Schulfreundinnen, auch nicht über Roux oder Thierry und nicht einmal über das geplante Fest – obwohl ich weiß, wie sehr sie mit den Vorbereitungen beschäftigt ist. Sie schreibt Einladungen und verziert jede Karte mit einem Stechpalmenzweig und mit einem Affen, sie schreibt Speisekarten und plant Spiele.
Und nun beobachte ich sie beim Abendessen und staune, wie erwachsen sie aussieht und dass sie plötzlich fast beunruhigend hübsch ist, mit ihren dunklen Haaren und ihren stürmischen Augen und den immer stärker hervortretenden Wangenknochen in ihrem lebhaften Gesicht.
Ich beobachte sie mit Rosette, sehe, wie graziös und konzentriert sie sich über den Geburtstagskuchen mit dem gelben Zuckerguss beugt, wie zärtlich sie Rosettes kleine Hand in ihrer größeren hält. Puste die Kerzen aus, Rosette , sagt sie. Nein, nicht sabbern. Blasen. So!
Und ich beobachte sie mit Zozie.
Ach, Anouk, es geht so schnell, diese abrupte Umstellung von Licht auf Schatten. Zuerst ist man der Mittelpunkt der Welt, und dann ist man nur noch eine Randerscheinung, eine Gestalt im Dunkeln, unbeachtet, kaum noch sichtbar.
Als ich spätabends wieder in der Küche bin, stecke ich ihre Schulkleidung in die Waschmaschine. Kurz drücke ich sie an mein Gesicht, als würden die Sachen einen Teil von Anouk enthalten, den ich verloren habe. Sie riechen nach draußen und nach den Räucherstäbchen in Zozies Zimmer und nach ihrem süßlichen Schweiß. Ich fühle mich wie eine Frau, die in den Kleidern ihres Geliebten nach Beweisen für seine Untreue schnuppert.
Und in der Tasche ihrer Jeans finde ich etwas, das sie vergessen hat. Es ist eine Puppe aus einer hölzernen Wäscheklammer, so ähnlich wie die Puppen, die sie für das Adventsfenster gebastelt hat. Ich erkenne sofort, wer es sein soll. Ich sehe die Markierungen, die sie mit Filzstift darauf gemalt hat, und die drei roten Haare, die sie um die Taille gewickelt hat, und wenn ich die Augen zusammenkneife, sehe ich auch den Glanz, der die Puppe umgibt, so schwach und so ungeheuer vertraut, dass ich ihn unter anderen Umständen sicher nicht bemerkt hätte.
Ich gehe noch einmal zum Adventsfenster. Die morgige Szene ist schon aufgebaut. Die Tür führt ins Esszimmer, und alle haben sich um den Tisch versammelt, auf dem ein Schokoladenkuchen steht, der demnächst angeschnitten wird. Auf dem Tisch stehen kleine Kerzen und kleine Teller und Gläser, und jetzt, da ich genauer hinschaue, kann ich sie fast alle erkennen: den dicken Nico, Zozie, die kleine Alice in ihren klobigen Stiefeln, Madame Pinot mit ihrem Kruzifix, Madame Luzeron in ihrem Friedhofsmantel, Rosette, ich, sogar Laurent und Thierry, der nicht eingeladen wurde und draußen unter den schneebedeckten Bäumen steht.
Und alle sind von diesem Goldglanz umgeben.
So eine Kleinigkeit –
Und so gewaltig.
Aber ein Spiel schadet doch bestimmt niemandem, denke ich. Spiele sind das Medium, mit dessen Hilfe Kinder die Welt verstehenlernen, und Geschichten, selbst die dunkelsten, sind ein Mittel, das ihnen hilft, mit dem Leben fertig zu werden, mit Verlust, mit Grausamkeit, mit dem Tod.
Doch diese kleine Adventslandschaft zeigt noch etwas anderes. Die kuschelige Szene mit Familie und Freunden am Tisch mit Kerzen, dem Weihnachtsbaum und der Bûche de Noël findet im Haus statt. Draußen ist es anders: Eine dicke Schneeschicht in Form von Puderzucker bedeckt Boden und Bäume. Der See mit den Enten ist jetzt zugefroren, die Zuckermäuse mit ihren Liedertexten sind verschwunden, und lange, messerscharfe,
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