Himmlische Wunder
hast doch nicht etwa Ja gesagt, oder?«, sagte ich, vielleicht etwas zu laut, denn Rosette hielt sich sofort die Ohren zu.
»Es ist kompliziert.« Sie klang müde.
»Das sagst du immer.«
»Weil auch immer alles kompliziert ist.«
Ich verstehe das nicht. Für mich sieht es ganz einfach aus. Sie war noch nie verheiratet, oder? Warum will sie dann ausgerechnet jetzt heiraten?
»Die Situation hat sich verändert, Nanou«, sagte sie.
»Welche Situation?«, wollte ich wissen.
»Na ja, angefangen mit der Chocolaterie . Die Miete ist bis zum Jahresende bezahlt, aber danach –« Sie seufzte. »Es wird nicht leicht sein, mit dem Laden genug Geld zu verdienen. Und ich kann doch kein Geld von Thierry annehmen. Er bietet es mir zwar immer wieder an, aber das wäre nicht fair. Und da dachte ich –«
Klar, ich hatte es geahnt, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber ich hatte gedacht, sie ist traurig wegen Madame. Jetzt konnte ich sehen, dass es an Thierry lag und dass sie sich Sorgen machte, ich könnte nicht in ihren Plan passen.
In diesen supertollen Plan. Ich sehe alles vor mir: Maman, Papa und die beiden kleinen Mädchen, wie aus einer Geschichte der Comtesse de Ségur. Wir gehen in die Kirche, wir essen jeden Tag Fleisch mit Pommes, ziehen Sachen von Galeries Lafayette an. Thierry hat ein Foto von uns auf seinem Schreibtisch stehen, aufgenommen von einem professionellen Fotografen, und Rosette und ich tragen ähnliche Kleider.
Damit mich niemand falsch versteht. Ich habe gesagt, er ist okay. Aber –
»Und?«, sagte Maman. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
Ich biss noch mal in mein Croissant. »Wir brauchen ihn nicht«, antwortete ich schließlich.
»Aber wir brauchen irgendjemanden, so viel ist sicher. Ich habe gedacht, du würdest das verstehen. Du musst in die Schule gehen, Anouk. Du brauchst ein richtiges Zuhause – einen Vater –«
Dass ich nicht lache! Einen Vater. Als wäre das wichtig. Man sucht sich seine Familie selbst aus , sagt sie immer, aber welche Wahlmöglichkeiten lässt sie mir?
»Anouk«, sagte sie. »Ich tue es für dich –«
»Wie du meinst«, sagte ich, nahm mein Croissant und ging hinaus auf die Straße.
8
S AMSTAG , 10 . N OVEMBER
Ich schaute heute Morgen in der Chocolaterie vorbei und kaufte eine Schachtel Likörkirschen. Yanne war da, mit der Kleinen. Obwohl im Laden nichts los war, wirkte sie gehetzt, fast so, als wäre es ihr nicht recht, mich zu sehen. Und die Pralinen waren auch nichts Besonderes.
»Ich habe sie früher immer selbst gemacht«, sagte sie und reichte mir die Pralinen in einer Papiertüte. »Aber Likörsachen sind so umständlich, und ich habe nie genug Zeit. Hoffentlich schmecken sie Ihnen.«
Ich steckte mir eine in den Mund, mit gut gespieltem Heißhunger. »Fabelhaft«, murmelte ich durch die säuerliche Füllung aus eingelegten Kirschen. Auf dem Fußboden hinter der Theke lag Rosette, umgeben von Stiften und Buntpapier, und sang leise vor sich hin.
»Geht sie nicht in den Kindergarten?«
Yanne schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie gern im Auge behalten.«
Ja, das sehe ich. Ich sehe noch mehr, jetzt, da ich danach suche. Hinter der himmelblauen Tür verbergen sich alle möglichen Dinge, die normale Kunden nicht wahrnehmen. Erstens ist der Laden alt und nicht besonders gut in Schuss. Das Schaufenster ist ganz schön, mit seinen hübschen kleinen Dosen und Schachteln, und die Wände sind fröhlich gelb gestrichen, aber trotzdem lauert überall die Feuchtigkeit, in den Ecken und unter dem Fußboden, ein Zeichen für Geld- und Zeitmangel. Es wurden einige Anstrengungen unternommen, das zu kaschieren, ein goldenes Spinnennetz über einem Nest aus Rissen, ein willkommenheißender Schimmer auf der Tür, ein üppiger Duft in der Luft, der mehr verspricht als nur diese zweitklassigen Pralinen.
Nimm mich. Iss mich.
Diskret formte ich mit meiner linken Hand das Auge des Schwarzen Tezcatlipoca. Um mich herum leuchteten die Farben auf und bestätigten meinen Verdacht vom ersten Tag: Hier hat sich jemand betätigt, aber ich glaube nicht, dass es Yanne Charbonneau war. Dieser Zauber hat etwas Kindliches, Naives, Übermütiges – typisch für einen ungeübten Geist.
Annie? Wer sonst? Und die Mutter? Tja. Sie hat etwas, was mich irritiert, etwas, was ich bisher erst einmal gesehen habe – am ersten Tag, als sie die Tür öffnete, weil sie ihren Namen hörte. Ihre Aura war damals heller. Und wie hell! Und irgendetwas sagt mir, dass sie diese Aura noch
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