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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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verstreute Großfamilie. Aber soweit ich weiß, gab es keine Männer im Leben meiner Mutter.
    Außer dem Schwarzen Mann, versteht sich.
    War mein Vater der Schwarze Mann? Mir blieb fast das Herz stehen, als Anouk mir jetzt eine ganz ähnliche Frage stellte. Ich hatte selbst diesen Gedanken gehabt, als wir immer flohen, mit fliegenden Fahnen, in karnevalbunten Farben und zerzaust vom Wind. Der Schwarze Mann war selbstverständlich nicht real. Mit der Zeit dachte ich, dass es sich mit meinem Vater genauso verhielt.
    Trotzdem war ich neugierig, und gelegentlich ließ ich meinen Blick über die Menschen schweifen, in New York oder Berlin, in Venedig oder Prag. Ich hoffte, ich könnte ihn vielleicht doch irgendwo entdecken, einen Mann, allein, mit meinen dunklen Augen.
    In der Zwischenzeit rannten wir, meine Mutter und ich. Zuerst schien es einfach die Freude am Rennen zu sein, die sie antrieb, dann wurde es zur Gewohnheit, wie alles im Leben, und danach eine Qual. Am Schluss glaubte ich, dass nur die Bewegung sie noch am Leben hielt, während der Krebs sich durch sie hindurch fraß, durch ihr Blut, durch ihr Gehirn, durch ihre Knochen.
    Damals erwähnte sie zum ersten Mal das Mädchen. Hirngespinste, dachte ich, von den vielen Schmerzmitteln, die sie einnimmt. Und sie redete wirklich oft wirres Zeug, als das Ende näher kam. Sie erzählte Geschichten, die völlig unlogisch und abstrus klangen, sie sprach von dem Schwarzen Mann, unterhielt sich mit Leuten, die gar nicht da waren.
    Das kleine Mädchen mit dem Namen, der ganz ähnlich klang wie meiner, hätte auch ein Produkt dieser unsicheren Zeiten sein können – ein Archetyp, eine Anima, eine Zeitungsmeldung, irgendeine verlorene Seele mit dunklen Haaren und dunklen Augen, an einem verregneten Tag in Paris vor einem Zigarettenkiosk gestohlen.
    Sylviane Caillou. Verschwunden, wie so viele. Mit achtzehn Monaten aus dem Kindersitz im Auto entwendet, vor einer Apothekenicht weit von La Villette. Entführt, samt ihren Windeln zum Wechseln und ihren Spielsachen, ums Handgelenk ein billiges Silberkettchen mit einem Glücksbringer, einer kleinen Katze.
    Das war nicht ich. Völlig unmöglich! Und selbst wenn, nach all der Zeit!
    Man sucht sich seine Familie selbst aus , sagte Mutter. So wie ich dich ausgesucht habe und du mich. Das Mädchen, sie hätte sich gar nicht richtig um dich kümmern können. Sie hätte nicht gewusst, wie das geht. Wie man einen Apfel der Breite nach durchschneidet, damit man den Stern in der Mitte sehen kann, wie man Medizinsäckchen bindet, wie man Dämonen bannt, indem man auf einen Blechtopf schlägt, wie man den Wind in den Schlaf singt. All das hätte sie dir nie beigebracht.
    Und wir haben es doch gut hingekriegt, Vianne. Habe ich dir nicht versprochen, dass wir es hinkriegen?
    Ich habe ihn noch, den Talisman. Die kleine Katze. Ich erinnere mich nicht mehr an das Armkettchen. Vermutlich hat sie es irgendwann verkauft oder verschenkt, aber ich erinnere mich vage an die Spielsachen, an den roten Plüschelefanten und an den kleinen braunen Bären, heiß geliebt und mit nur einem Auge. Und der Glückbringer ist immer noch in der Kiste meiner Mutter, ein billiges Ding, wie Kinder es gern haben, mit einem roten Band. Die Katze ist bei ihren Karten, bei dem Foto von uns, das aufgenommen wurde, als ich sechs war. Außerdem befinden sich in dieser Kiste: ein bisschen Sandelholz, ein paar Zeitungsartikel, ein Ring, ein Bild, das ich in meiner ersten und einzigen Schule gemalt habe, als wir noch vorhatten, uns eines Tages irgendwo niederzulassen.
    Selbstverständlich trage ich ihn nie. Ich fasse ihn nicht einmal mehr gern an; er birgt zu viele Geheimnisse und kommt mir vor wie ein Geruch, der menschliche Wärme braucht, um aktiviert zu werden. Überhaupt berühre ich eigentlich die ganzen Sachen nicht mehr, die in der Kiste sind. Doch ich wage es nicht, sie wegzuwerfen. Zu viel Ballast hemmt einen, aber mit zu wenig Ballast kann man weggepustet werden wie Löwenzahnsamen, für immer dem Wind ausgeliefert.
    Zozie ist jetzt vier Tage da, und ihre Persönlichkeit spiegelt sich in allem wider, was sie anfasst. Ich weiß nicht, wie das passiert ist, vermutlich ein flüchtiger Moment der Schwäche. Ich hatte nicht vorgehabt, ihr einen Job anzubieten. Schon allein, weil ich es mir gar nicht leisten kann, ihr Geld zu bezahlen, aber sie ist bereit, zu warten, bis ich es kann. Und es kommt mir völlig natürlich vor, dass sie hier ist, als wäre sie schon immer bei

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