Himmlische Wunder
Glasschale in tausend Scherben zersprang und die Mandeln über die Terrakottafliesen hüpften.
Ich hörte den Aufprall, aber ich schaute nicht hin. Stattdessen beobachtete ich Rosette und Yanne – das Kind mit leuchtenden Farben, die Mutter so reglos wie eine Statue aus Stein.
»Ich helfe Ihnen«, sagte ich und bückte mich, um die Scherben aufzuheben.
»Nein, bitte –«
»Ich mach das schon«, sagte ich.
Ich spürte, dass ihre Nerven jetzt zum Zerreißen gespannt waren. Sie versuchte, sich zu beherrschen, war aber kurz davor zu explodieren. Das lag bestimmt nicht an der kaputten Schale – Frauen wie Yanne verlieren wegen so etwas nicht die Fassung, das weiß ich. Aber andererseits können die seltsamsten Dinge eine Explosion provozieren – ein schlechter Tag, Kopfschmerzen, die Freundlichkeit von Fremden.
Und dann sah ich aus dem Augenwinkel, dass da etwas unter der Theke hockte.
Es leuchtete orangegolden, die Form nicht besonders klar umrissen, aber an dem langen, geschwungenen Schwanz und an den funkelnden kleinen Augen konnte man erkennen, dass es eine Art Affe sein musste. Ich drehte mich blitzschnell um, weil ich ihm ins Gesicht sehen wollte, und der Affe entblößte seine spitzen Zähne für mich, bevor er in der leeren Luft verschwand.
»Bam«, sagte Rosette.
Dann war alles still. Lange, lange.
Ich hob die Schale auf – sie war aus Muranoglas, mit einem fein geriffelten Rand. Ich hatte genau gehört, wie sie zersplitterte, das reinste Feuerwerk, als würden Granatsplitter über die Fliesen sausen. Und jetzt hielt ich sie in der Hand. Vollkommen unbeschädigt. Nichts passiert.
Bam , dachte ich.
Unter meinen Schuhen fühlte ich die verstreuten Zuckermandeln, die wie Zähne knirschten. Und nun schaute mich Yanne Charbonneau stumm und verängstigt an, und das Schweigen spann sich immer enger um uns, wie ein Seidenkokon.
Ich hätte sagen können: Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt . Oder ich hätte die Glasschale wortlos zurückstellen können, aber ich sagte mir, jetzt oder nie. Sofort zuschlagen, solange der Widerstand gering ist. Eine zweite Chance gibt es vermutlich nicht .
Deshalb erhob ich mich, schaute Yanne direkt in die Augen und richtete meinen ganzen Charme auf sie.
»Es ist in Ordnung«, sagte ich. »Ich weiß, was Sie brauchen.«
Für einen Moment stand sie nur da, stumm und starr. Trotzig und hochmütig erwiderte sie meinen Blick, als würde sie mich nicht verstehen.
Dann nahm ich ihren Arm und lächelte.
»Schokolade«, sagte ich sanft. »Schokolade, nach meinem Spezialrezept. Chili und Muskat, mit Armagnac und einer Prise schwarzem Pfeffer. Kommen Sie. Ich dulde keinen Widerspruch. Nehmen Sie die Kleine mit.«
Schweigend folgte sie mir in die Küche.
Ich hatte es geschafft. Ich war drin.
1
M ITTWOCH , 14 . N OVEMBER
Ich wollte nie eine Hexe sein. Nicht mal im Traum – obwohl meine Mutter schwor, sie habe mich schon Monate, bevor ich erschien, rufen hören. Daran kann ich mich selbstverständlich nicht erinnern, und meine frühe Kindheit ist eine endlose Abfolge von Orten, Gerüchen und Menschen, die verschwommen an mir vorbeisausten, schneller als Züge; wir überquerten Grenzen ohne Papiere, reisten unter verschiedenen Namen, verließen mitten in der Nacht unsere billigen Hotelzimmer, begrüßten die Morgendämmerung jeden Tag anderswo, wir rannten, wir rannten die ganze Zeit, schon damals – als wäre es die einzig mögliche Überlebensform, durch die Arterien, Venen und Kapillargefäße auf der Landkarte zu rennen und nie etwas zurückzulassen, nicht einmal unseren Schatten.
Man sucht sich seine Familie selbst aus , sagte meine Mutter. Mein Vater war offenbar nicht ausgesucht worden.
»Wozu brauchen wir ihn, Vianne? Väter zählen nicht. Nur du und ich.«
Ganz ehrlich: Ich vermisste ihn nie. Wie hätte er mir auch fehlen sollen? Es gab nichts, woran ich seine Abwesenheit messen konnte. Ich stellte ihn mir dunkel und ein bisschen finster vor, vielleicht ein Verwandter des Schwarzen Mannes, vor dem wir flohen. Und ich liebte meine Mutter, ich liebte die Welt, die wir uns geschaffen hatten, eine Welt, die wir überallhin mitnahmen und zu der die Durchschnittsmenschen keinen Zugang hatten.
Weil wir etwas Besonderes sind , sagte sie immer. Wir sahen Dinge,die sonst niemand sah, wir kannten Tricks, die keiner kannte. Man sucht sich seine Familie selbst aus, und das taten wir auch. Eine Schwester hier, eine Großmutter da, vertraute Gesichter, eine
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