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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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aus. Sogar für so kleine Dinge wie für einen Talisman, einen Zauberspruch, einen Kreis im Sand, für alles muss man bezahlen. Ohne Ausnahme. Mit Blut.
    Es gibt das Gesetz der Symmetrie, muss man wissen. Für jeden Glücksfall gibt es ein Leid, für jeden Menschen, dem wir geholfen haben, eine Kränkung. Ein rotes Seidensäckchen über unserer Tür – und anderswo fällt ein Schatten. Eine Kerze, angezündet, um Unheil abzuwehren – und das Haus auf der anderen Straßenseite fängt Feuer und brennt ab bis auf die Grundfesten.
    Einfach nur Pech.
    Ein Unfall.
    Deshalb kann ich mich Zozie nicht anvertrauen. Ich mag sie sehr und will ihre Zuneigung nicht verlieren. So wie’s aussieht, mögen die Kinder sie ebenfalls. Sie hat etwas sehr Junges, etwas, das näher an Anouks Altersgruppe dran ist als an meiner, und dadurch wirkt sie wesentlich zugänglicher.
    Vielleicht liegt es an ihren Haaren. Sie trägt sie offen und hat sie mit pinkfarbenen Strähnen gefärbt. Oder es liegt an ihren schrillen Secondhandklamotten, bunt zusammengewürfelt wie Sachen aus einer Verkleidekiste, aber bei ihr passt komischerweise immer alles zusammen. Heute hat sie ein tailliertes hellblaues Kleid aus den fünfziger Jahren an, mit einem Segelschiffmuster, dazu gelbe Ballettschuhe, nicht gerade ideal für November, aber ihr ist das sowieso gleichgültig. Zozie ist eigentlich alles gleichgültig.
    Ich weiß, dass ich früher auch so war. Ich erinnere mich an den Trotz, an die Freiheit. Aber wenn man Mutter wird, ändert sich alles. Das Muttersein macht Feiglinge aus uns allen. Feiglinge, Lügnerinnen – und manchmal noch Schlimmeres.
    Vier Tage! Und ich staune immer wieder, wie ich mich auf Zozie verlasse, sie passt nicht nur auf Rosette auf, wie Madame Poussin früher, sondern kümmert sich auch um den ganzen Kleinkram im Laden. Verpacken, aufräumen, putzen, bestellen. Sie sagt, sie macht es gern, denn sie habe immer davon geträumt, in einer Chocolaterie zu arbeiten, dabei bedient sie sich nicht einmal an den Pralinen, wie Madame Poussin es immer getan hat, und sie nutzt ihre Position auch nicht dazu aus, alles zu probieren.
    Thierry gegenüber habe ich ihre Anwesenheit noch gar nicht erwähnt. Ich weiß auch nicht genau, wieso; aber ich spüre instinktiv, dass er nicht einverstanden wäre. Vielleicht, weil ich ihn nicht vorher um Rat gefragt habe, vielleicht auch wegen Zozie selbst, die so weit entfernt von der gesetzten Madame Poussin ist wie nur irgend möglich.
    Den Kunden gegenüber benimmt sie sich völlig ungezwungen. Das ist sehr erfrischend, aber manchmal irritiert es mich schonfast. Sie redet ohne Pause, während sie die Schachteln einpackt, die Pralinen abwiegt, neue Spezialitäten anpreist. Und sie hat eine Gabe, die Leute zum Reden zu bringen; sie erkundigt sich nach Madame Pinots Rückenschmerzen, unterhält sich mit dem Postboten über seine Runde. Sie weiß, welche Pralinen der dicke Nico am liebsten mag, flirtet wie wild mit Jean-Louis und Paupaul, den Möchtegernmalern, die um das Le P’tit Pinson herum nach Kundschaft fahnden, und plaudert angeregt mit Richard und Mathurin, den beiden alten Männern, die sie »die Patrioten« nennt und die manchmal schon um acht Uhr morgens ins Café kommen und selten vor dem Abendessen wieder aufbrechen.
    Sie weiß, wie Anouks Schulfreundinnen heißen, erkundigt sich nach ihren Lehrern, redet mit ihr über Klamotten. Trotzdem fühle ich mich von ihr nie überfordert, und sie stellt auch nie die Fragen, die jeder andere Mensch stellen würde.
    So ähnlich ging es mir mit Armande Voizin, damals in Lansquenet. Widerspenstig, frech, respektlos, ich sehe immer noch ihre feuerroten Kleider aus dem Augenwinkel oder höre ihre Stimme, wenn ich die Straßen entlanggehe, diese Stimme, die ein bisschen unwirklich war, wie die meiner Mutter, und es kann passieren, dass ich mich umdrehe und sie suche.
    Zozie ist natürlich ganz anders. Armande war achtzig, ausgelaugt, streitsüchtig und krank. Und doch kann ich sie in Zozie sehen: ihr quecksilbriges Auftreten, ihren unersättlichen Lebenshunger. Und wenn Armande einen Funken von dem hatte, was meine Mutter Zauber nannte …
    Aber über solche Dinge reden wir nicht. Wir haben stillschweigend einen Pakt geschlossen. Die kleinste Indiskretion – und sei es auch nur ein Streichholz – und wieder einmal könnte unser kleines Kartenhaus in Flammen aufgehen. Das ist in Lansquenet passiert, in Les Laveuses und an hundert anderen Orten. Aber jetzt

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