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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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mir gewesen, mein ganzes Leben.
    Es begann an dem Tag des Unfalls. An dem Tag, als sie Schokolade kochte und sie mit mir in der Küche trank, heiß und süß, mit frischem Chili und mit Schokostreusel. Rosette trank auch etwas davon, aus ihrem kleinen Becher, dann spielte sie wieder auf dem Fußboden, während ich schweigend dasaß. Und Zozie musterte mich mit diesem Lächeln, ihre Augen schmal wie Katzenaugen.
    Es war der absolute Ausnahmezustand. An jedem anderen Tag, zu jedem anderen Zeitpunkt, wäre ich besser gewappnet gewesen. Aber an dem Tag … Ich hatte immer noch Thierrys Ring in der Tasche, und Rosette war schlimmer denn je, und Anouk redete nicht mehr mit mir, seit sie es wusste, und vor mir lag ein langer, leerer Nachmittag.
    Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich gesperrt. Aber an dem Tag …
    Es ist in Ordnung. Ich weiß, was Sie brauchen.
    Was soll das heißen? Was weiß sie? Dass eine zersplitterte Glasschale plötzlich wieder ganz war? Es ist so absurd, niemand würde es glauben. Erst recht würde niemand glauben, dass diesen Trick ein vierjähriges Mädchen ausgeführt hat, noch dazu eins, das nicht mal reden kann.
    »Sie sehen müde aus, Yanne«, sagte Zozie. »Es ist bestimmt nicht leicht, wenn man sich um alles kümmern muss.«
    Ich nickte stumm.
    Rosettes Unfall stand zwischen uns, wie das letzte Stück Torte bei einem Geburtstagskaffee.
    Sag’s nicht , bat ich sie, ohne es auszusprechen. So wie ich schon Thierry angefleht hatte. Bitte, sag’s nicht. Fass es nicht in Worte .
    Ich glaubte ihre Antwort zu spüren: ein Seufzen, ein Lächeln, ein Blick auf etwas, das man im Schatten nur flüchtig wahrnimmt. Ein leises Mischen der nach Sandelholz duftenden Karten.
    Schweigen.
    »Ich möchte nicht darüber reden«, sagte ich.
    Zozie zuckte die Achseln. »Dann trinken Sie doch einfach Ihre Schokolade.«
    »Aber Sie haben es gesehen.«
    »Ich sehe alles Mögliche.«
    »Zum Beispiel?«
    »Ich sehe, dass Sie müde sind.«
    »Ich schlafe nicht gut.«
    Eine ganze Weile musterte sie mich schweigend. Ihre Augen leuchteten wie Sommerlicht, mit goldenen Sonnenflecken. Ich müsste eigentlich deine Lieblingspralinen wissen , dachte ich fast wie im Traum. Aber v ielleicht beherrsche ich die einfachsten Tricks nicht mehr …
    »Ich mache jetzt mal einen Vorschlag«, sagte sie schließlich. »Erlauben Sie mir, dass ich mich um den Verkauf kümmere. Ich bin in einem Laden aufgewachsen – ich weiß, wie das geht. Sie nehmen Rosette und legen sich eine Weile hin. Falls ich Hilfe brauche, schreie ich. Nun gehen Sie schon! Ich mache das gern.«
    Das ist vier Tage her. Wir haben beide nicht darüber geredet. Rosette versteht natürlich noch nicht, dass in der wirklichen Welt eine kaputte Glasschale kaputt bleiben muss, auch wenn wir uns noch so sehr wünschen, sie wäre wieder heil. Und Zozie hat keine Anstalten gemacht, das Thema noch einmal anzusprechen. Dafür bin ich ihr dankbar. Sie weiß natürlich, dass irgendetwas passiert ist; aber sie scheint damit einverstanden zu sein, dass wir es auf sich beruhen lassen.
    »In was für einem Laden bist du aufgewachsen, Zozie?«
    »In einer Buchhandlung. In einer mit New-Age-Büchern und so.«
    »Ehrlich?«
    »Ja, meine Mutter fand so was gut. Magie, die man an der Kasse kaufen kann. Tarotkarten. Sie hat Räucherstäbchen und Kerzen verkauft, an glückliche Hippies ohne Geld und mit schrecklichen Frisuren.«
    Ich lächelte, aber ganz wohl fühlte ich mich nicht.
    »Na ja, das ist lange her«, sagte sie. »Ich erinnere mich nicht an besonders viel.«
    »Aber du, du glaubst immer noch?«
    Sie lächelte. »Ich glaube, dass wir etwas bewirken können.«
    Schweigen.
    »Und du?«
    »Ich habe früher mal geglaubt«, sagte ich. »Aber jetzt nicht mehr.«
    »Darf ich fragen, warum nicht?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Später vielleicht.«
    »Einverstanden.«
    Ich weiß, ich weiß. Es ist gefährlich. Keine Handlung bleibt ohne Folgen. Magie hat ihren Preis. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen, aber jetzt – nach Lansquenet, nach Les Laveuses – ist es mir sonnenklar, und die Konsequenzen unseres Reisens ziehen immer weitere Kreise, wie die Kreise in der Wasseroberfläche eines Sees nach einem Steinwurf.
    Zum Beispiel meine Mutter: Sie ging so großzügig mit ihrer Begabung um, sie schenkte Glück und Zuversicht, während in ihr der Krebs wuchs, wie Zinsen auf einem Sparbuch, von dem sie gar nicht wusste, dass sie es hatte. Das Universum gleicht seine Bilanzen

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