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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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wird so oft wiederholt werden, bis Yanne ihn für abgeschlossen erklärt.
    Das Zuckerthermometer benutzt sie fast nie. Sie macht schon so lange Pralinen, erklärt sie mir, dass sie spürt, wann die Masse die richtige Temperatur erreicht hat. Ich glaube ihr. In den letzten drei Tagen hat sie jedenfalls nur makellose Ware produziert, und ich habe beim Zuschauen gelernt, worauf man achten muss und woranman beim endgültigen Produkt die Spitzenqualität erkennt: Streifen und die wenig attraktiven hellen Schlieren sind ein Zeichen für die falsche Temperatur, während strahlender Glanz und ein kurzes, klares Knacken auf Perfektion hinweisen.
    Trüffel sind am einfachsten herzustellen, versichert sie. Annie konnte das schon mit vier, und jetzt ist Rosette an der Reihe: Mit feierlicher Miene rollt sie die Trüffelkugeln auf dem mit Kakaopulver bestreuten Blech hin und her, das Gesicht braun verschmiert, ein kleiner Waschbär mit Strahleaugen.
    Zum ersten Mal höre ich Yanne laut lachen.
    Oh, Yanne. Diese Schwäche.
    In die Zwischenzeit wende ich ein paar Tricks an. Es ist ja in meinem eigenen Interesse, dass der Laden hier gut läuft, und ich gebe mir große Mühe, ihn anziehender zu gestalten. Angesichts von Yannes Sensibilität muss ich allerdings diskret vorgehen, aber wenn man verschiedene Symbole – für Cinteotl den Mais und die Kakaobohne für die Herrin des Blutmondes – in den Oberbalken der Tür und in die Eingangsstufe ritzt, müsste das eigentlich ausreichen, um dafür zu sorgen, dass unser kleines Geschäft floriert.
    Ich weiß, welche Pralinen welche Kunden am liebsten mögen, Vianne. Ich kann ihre Aura lesen. Und ich weiß, dass das Blumenmädchen Angst hat, ich weiß, dass die Frau mit dem kleinen Hund sich ständig Selbstvorwürfe macht und dass der pausenlos quasselnde fette junge Mann vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag sterben wird, wenn er nicht ein bisschen abnimmt.
    Es ist eine Gabe, muss man wissen. Ich kann sagen, was sie brauchen; ich kann sagen, wovor sie sich fürchten; ich kann sie zum Tanzen bringen.
    Hätte meine Mutter das auch versucht, dann hätte sie sich nicht so abstrampeln müssen; aber sie misstraute meiner praktischen Magie, sie fand sie »interventionistisch« und meinte, dieser Missbrauch meiner Talente sei bestenfalls egoistisch und im schlimmsten Fall schädlich für uns beide.
    »Denke an den Delfinglauben«, sagte sie. »Greife nicht ein, sonstvergisst du den Weg.« Natürlich gab es im Delfinglauben lauter solche Leitsätze – aber zu der Zeit war mein eigenes System schon weit entwickelt, und ich hatte längst entschieden, dass ich den Delfinglauben ablegen wollte, und nicht nur das: Ich wusste, dass ich dazu geschaffen war, mich einzumischen.
    Die Frage ist nur: Mit wem will ich anfangen? Mit Yanne oder mit Annie? Mit Laurent Pinson oder Madame Pinot? Es gibt hier so viele Leben, die alle ineinander verwoben sind, und jedes hat seine eigenen Geheimnisse und Träume, seine ehrgeizigen Pläne und verborgenen Zweifel, seine finsteren Gedanken, seine vergessenen Leidenschaften und die unausgesprochenen Wünsche. So viele Leben, die sich anbieten und die jemand wie ich ausprobieren kann.
    Heute Morgen kam das Mädchen aus dem Blumenladen in die Chocolaterie . »Ich habe mir das Schaufenster angesehen«, murmelte sie leise. »Es ist so hübsch – ich konnte nicht anders, ich musste einfach hereinkommen.«
    »Sie heißen Alice, stimmt’s?«, sagte ich.
    Sie nickte und blickte sich um, studierte die neue Ausstattung so neugierig wie ein kleines Tierchen.
    Alice, das wissen wir, ist schrecklich schüchtern. Ihre Stimme ist nur ein Säuseln, und ihre Haare sind wie ein Leichentuch. Ihre mit Kajal umrandeten Augen, die eigentlich sehr hübsch sind, blicken scheu unter dem Vorhang aus gebleichten Strähnen hervor, und ihre Arme und Beine ragen staksig aus dem blauen Kleid, das vorher bestimmt einer Zehnjährigen gehört hat.
    Sie trägt hohe Plateaustiefel, die für ihre dürren Beine viel zu wuchtig sind. Am liebsten isst sie Fudge mit Milchschokolade, aber sie kauft immer nur die einfachen dunklen Tafeln, weil die nur halb so viel Kalorien haben. Ihre Farben sind von Nervosität und Angst geprägt.
    Sie schnupperte. »Hier riecht es gut.«
    »Yanne macht Pralinen«, erklärte ich ihr.
    »Sie macht Pralinen? Kann sie so was?«
    Ich sorgte dafür, dass sie auf dem alten Sessel Platz nahm, den ich beim Sperrmüll in der Rue de Clichy gefunden hatte. Er ist

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