Himmlische Wunder
nötigen Vorwand.
Rosette fasziniert mich zunehmend. Sie ist klein für ihr Alter, hat ein spitzes Gesicht mit weit auseinanderliegenden Augen – fast wie eine Katze. Auf allen vieren krabbelt sie über den Fußboden (so bewegt sie sich am liebsten vorwärts, aufrecht gehen will sie nicht), sie steckt die Finger in Löcher der Wandverkleidung, macht immer wieder die Küchentür auf und zu oder legt auf dem Boden mit kleinen Gegenständen komplizierte Muster. Man muss sie ständig im Auge behalten – normalerweise ist sie ja ziemlich brav, aber sie hatkein Gespür für Gefahren, und wenn sie sich ärgert oder frustriert ist, bekommt sie manchmal schlimme Wutanfälle (oft, ohne dabei einen Ton von sich zu geben). Dann wirft sie sich wild hin und her und knallt sogar mit dem Kopf auf den Boden.
»Was fehlt ihr?«, fragte ich Annie.
Sie musterte mich prüfend, als würde sie abzuschätzen versuchen, ob sie mir antworten konnte, ohne in Gefahr zu geraten. »Das weiß niemand so richtig«, sagte sie. »Einmal war sie beim Arzt, als sie noch ganz klein war. Er hat gesagt, sie hat wahrscheinlich etwas, was man Cri du chat nennt, aber ganz sicher war er sich auch nicht, und wir sind nie wieder hingegangen.«
» Cri du chat ?» Das klang wie ein mittelalterliches Leiden, etwas, das durch den Schrei einer Katze ausgelöst wird.
»Sie hat immer solche Geräusche gemacht. Ganz ähnlich wie eine Katze. Ich hab sie nur Katzenbaby genannt.«
Annie lachte und senkte dann fast schuldbewusst den Blick, als wäre es riskant, darüber zu reden. »Eigentlich ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Sie ist nur ein bisschen anders als die anderen.«
Anders. Wieder dieses Wort. Genau wie »Unfall« scheint es für Annie eine besondere Bedeutung zu haben, die über das Offensichtliche hinausgeht. Auf jeden Fall neigt Rosette zu Unfällen. Aber ich spüre, dass damit nicht nur gemeint ist, dass sie sich Malwasser über die Gummistiefel kippt oder Toastscheiben in den Videorekorder steckt oder die Finger in den Käse bohrt, um Löcher für unsichtbare Mäuse zu schaffen.
Unfälle passieren, wenn sie da ist. Wie die Glasschale aus Murano, bei der ich geschworen hätte, dass sie zersplittert ist, obwohl ich mir nicht mehr ganz sicher bin. Oder die Glühbirnen, die manchmal an- und ausgehen, obwohl niemand den Schalter bedient. Klar, das kann natürlich auch daran liegen, dass in einem alten Haus die Stromversorgung etwas eigenwillig ist. Den Rest kann ich mir eingebildet haben. Aber andererseits, Was einmal falsch war, bleibt immer falsch , wie meine Mutter immer sagte, und ich neige gewöhnlich nicht dazu, mir Sachen einzubilden.
In den letzten Tagen hatten wir extrem viel zu tun. Putzen, dasSortiment neu planen und Zutaten bestellen, Yannes Kupferpfannen, Formen und Keramiktöpfe aus dem Keller holen – obwohl sie alles sorgfältig verpackt hatte, waren viele Sachen fleckig und trübe und mit Grünspan überzogen, und während ich mich um den Laden kümmerte, schrubbte und scheuerte Yanne stundenlang in der Küche, bis auch der letzte Topf wie neu glänzte.
»Es ist nur zum Spaß«, sagt sie immer wieder, als wäre es ihr peinlich, dass sie das so gern macht – als wäre es eine Marotte aus ihrer Kindheit, die sie eigentlich ablegen müsste. »So ganz ernst nehme ich das nicht, weißt du.«
Na ja, aus meiner Perspektive sieht es sehr ernst aus.
Sie kauft nur die beste Kuvertüre, von einem Fairtrade-Lieferanten in der Nähe von Marseille, und sie bezahlt alles bar. Ein Dutzend Blöcke von jeder Sorte – für den Anfang, sagt sie; aber ich merke an ihrer begeisterten Reaktion, dass es nicht bei einem Dutzend bleiben wird. Früher hat sie ihre gesamte Ware selbst hergestellt, erzählt sie mir. Ich muss zugeben, dass ich das zuerst nicht recht geglaubt habe, aber nachdem ich jetzt erlebt habe, wie sie sich in die Arbeit stürzt, weiß ich, dass sie nicht übertrieben hat.
Sie macht das unglaublich geschickt, und es wirkt verblüffend therapeutisch, ihr dabei zuzuschauen. Die Kuvertüre wird zuerst zum Schmelzen gebracht und dann wieder abgekühlt, ein Vorgang, durch den sie ihre kristalline Konsistenz verliert und die schimmernd formbare Gestalt annimmt, die man zur Herstellung von Schokoladentrüffeln braucht. Yanne verwendet dafür eine Granitplatte: Sie streicht die seidig geschmolzene Schokolade aus und holt sie dann mit einem Spachtel wieder zu sich. Dann wandert die Masse zurück in den warmen Kupfertopf, und der Prozess
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