Himmlische Wunder
verdient hat, die Beliebte zu sein, obwohl sie noch nie für irgendjemanden einen Finger krumm gemacht hat und sich überhaupt für keinen einzigen Menschen interessiert, außer für sich selbst? Warum ist Jean-Loup Rimbaultbeliebter als Claude Meunier? Und was ist mit den anderen? Mit Mathilde Chagrin? Oder mit den Mädchen, die schwarze Kopftücher tragen? Was haben sie gemacht, dass sie zu Freaks werden? Was ist mit mir?
Ich redete mit meiner Schattenstimme und merkte gar nicht, dass Zozie hereinkam. Sie ist manchmal sehr leise, muss man wissen, sogar noch leiser als ich, was heute besonders komisch war, weil sie nämlich diese klackenden Clogs anhatte, mit denen man ziemlichen Lärm macht, ob man will oder nicht. Außer dass ihre so pink waren wie Fuchsien, weshalb sie irgendwie toll aussahen.
»Mit wem hast du gerade geredet?«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich laut rede.
»Mit keinem. Nur mit mir.«
»Auch nicht schlecht.«
»Stimmt.« Ich kam mir ziemlich blöd vor; ich spürte genau, wie Pantoufle uns beobachtete, mit seiner gestreiften Nase, die sich zuckend auf und ab bewegte, wie bei einem richtigen Kaninchen, wenn es schnuppert. Ich sehe ihn deutlicher, wenn ich mich ärgere, deshalb sollte ich keine Selbstgespräche führen. Außerdem sagt Maman immer, es ist wichtig, den Unterschied zwischen real und nicht real zu erkennen. Wenn man diesen Unterschied nicht beachtet, dann passieren Unfälle.
Zozie lächelte und machte ein Zeichen, so ähnlich wie ein »Okay«-Zeichen: Ihr Daumen und ihr Zeigefinger berührten sich, so dass sie einen Kreis bildeten. Durch diesen Kreis hindurch schaute sie mich an, dann ließ sie die Hand wieder sinken. »Weißt du, ich habe als Mädchen auch oft mit mir selbst geredet. Oder genauer gesagt, mit meiner unsichtbaren Freundin. Eigentlich habe ich die ganze Zeit mit ihr geredet.«
Ich weiß nicht, weshalb ich so überrascht war. »Du?«
»Sie hieß Mindy«, sagte Zozie. »Meine Mutter sagte, sie ist eine Geistführerin. Sie hat nämlich an solche Sachen geglaubt. Das heißt, eigentlich hat sie so ziemlich an alles geglaubt: an Kristallkugeln, Delfinzauber, Entführungen durch Außerirdische, an den Yeti. Was man sich nur vorstellen kann, sie hat dran geglaubt.«Sie grinste. »Aber manche Sachen funktionieren tatsächlich – stimmt’s, Nanou?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Manche Sachen funktionieren – was heißt das? Ich fühlte mich extrem unwohl. Aber irgendwie fand ich es auch klasse. Weil es dann nämlich nicht einfach nur ein Zufall oder ein Unfall war, was da im Tea-Shop passiert ist. Zozie redete über echte Magie, und sie redete ganz offen darüber, als wäre das alles wahr und kein Kinderkram, aus dem ich herauswachsen muss.
Zozie glaubt daran.
»Ich muss los.« Ich nahm meine Schultasche und ging zur Tür.
»Das sagst du oft. Was ist es? Eine Katze?« Sie kniff ein Auge zusammen und musterte mich noch einmal durch den Kreis zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich.
»Klein, mit großen Ohren.«
Ich schaute sie an. Sie lächelte immer noch.
Ich wusste, ich darf eigentlich nicht darüber reden. Wenn man darüber redet, wird alles nur noch schlimmer – aber ich wollte Zozie nicht anlügen. Zozie belügt mich ja auch nie.
Ich seufzte. »Ein Kaninchen. Es heißt Pantoufle.«
»Cool«, sagte Zozie.
Das war’s.
3
F REITAG , 16 . N OVEMBER
Der zweite Streich. Und ich hab’s wieder geschafft. Man muss nur gezielt zuschlagen, und die Piñata platzt. Die Mutter ist das schwache Glied, und wenn ich Yanne auf meine Seite bringe, kommt Annie ganz von allein, wie der Sommer dem Frühling folgt.
Dieses fantastische Kind. So jung, so klug. Mit so einem Kind könnte ich tolle Sachen machen – wenn nur die Mutter nicht im Weg stünde. Aber immer schön eins nach dem andern, stimmt’s? Es wäre ein Fehler, wenn ich jetzt mein Blatt ausreizen würde. Das Mädchen ist immer noch sehr zurückhaltend, und wenn ich zu viel Druck mache, zieht sie sich womöglich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Deshalb werde ich warten und in der Zwischenzeit Yanne bearbeiten. Das macht mir Spaß, ehrlich gesagt. Eine alleinerziehende Mutter, die einen Laden führen muss und ständig ein kleines Kind am Bändel hat – es ist gar nicht so schwer, ihre Vertraute zu werden, ihre Freundin. Sie braucht mich. Rosette mit ihrer unstillbaren Neugier und ihrer Begabung, immer am falschen Platz zu sein, liefert mir den
Weitere Kostenlose Bücher