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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Papierblume dazu. Dann stellte sie die Schachtel auf die Theke zwischen ihnen.
    »Diese Trüffel sehen anders aus«, sagte Madame, während sie misstrauisch durch das Glas schaute.
    »Sie sind auch anders«, erklärte Zozie. »Yanne macht sie selbst.«
    »Schade«, seufzte Madame. »Ich mochte die anderen.«
    »Die hier werden Ihnen bestimmt noch viel besser schmecken«,versicherte ihr Zozie. »Versuchen Sie eine. Ein Geschenk des Hauses.«
    Ich hätte ihr gleich sagen können, dass sie ihre Zeit vergeudete. Stadtmenschen sind immer misstrauisch, wenn sie etwas geschenkt bekommen. Sie sagen automatisch Nein, als wären sie nicht willens, irgendjemandem dankbar sein zu müssen, nicht einmal für eine einzige Praline. Madame schniefte kurz, eine wohlerzogene Version von Laurents Grrmpf, und legte das Geld auf die Theke.
    In dem Moment glaubte ich, etwas zu sehen. Ein fast unmerkliches Fingerschnippen, als ihre Hand die von Zozie berührte. Ein kurzes Aufleuchten in der grauen Novemberluft. Vielleicht war es ja auch nur das flackernde Neonschild auf der anderen Seite des Platzes, aber das Le P’tit Pinson ist geschlossen, und bis die Straßenlaternen angehen, sind es bestimmt noch zwei Stunden. Ich kenne dieses Leuchten. Diesen Funken, der wie ein Stromstoß von einer Person auf die andere überspringt …
    »Ach, kommen Sie«, sagte Zozie. »Es ist schon so lange her, dass Sie sich etwas gegönnt haben.«
    Madame hatte es genauso gespürt wie ich. Ich sah, wie sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Unter der Schutzschicht aus Puder und Make-up sah ich Verwirrung, Sehnsucht, Einsamkeit, Trauer. Gefühle, die wie Wolken über ihre blassen Gesichtszüge huschten.
    Hastig wandte ich den Blick ab. Ich will deine Geheimnisse nicht erfahren , dachte ich. Ich will nicht wissen, was du denkst. Nimm deinen albernen kleinen Hund und deine Pralinen und geh nach Hause, sonst ist es …
    Zu spät. Ich hatte es gesehen.
    Der Friedhof. Ein großer Grabstein aus hellgrauem Marmor, geschwungen wie eine Meereswelle. Ich sah das Bild, das in den Stein eingelassen ist: ein etwa dreizehnjähriger Junge, der frech und mit schiefen Zähnen in die Kamera grinst. Ein Schulfoto vielleicht, das letzte, das vor seinem Tod aufgenommen wurde, eine Schwarzweißaufnahme, mit Aquarellfarben koloriert. Und darunter die Pralinen, eine endlose Reihe kleiner Schachteln, vom Regen aufgeweicht.Eine für jeden Donnerstag. Unberührt stehen sie da, mit gelben, rosaroten und grünen Schleifen.
    Ich schaute auf. Madames Blick ist starr, aber er gilt nicht mir. Ihre verängstigten, müden blassblauen Augen sind weit aufgerissen und leuchten verblüffend hoffnungsvoll.
    »Ich bin spät dran«, murmelt sie leise.
    »Sie haben noch Zeit«, sagt Zozie sanft. »Setzen Sie sich doch ein bisschen. Ruhen Sie Ihre Füße aus. Nico und Alice wollten gerade gehen. Kommen Sie«, beharrt sie, als Madame protestieren will. »Nehmen Sie Platz und trinken Sie eine Schokolade. Es regnet, und Ihr Junge kann warten.«
    Und zu meiner großen Verwunderung gehorcht Madame.
    »Danke«, sagt sie und setzt sich in den Sessel. Sie wirkt völlig deplatziert vor dem schrillen pinkfarbenen Leopardenmuster, während sie mit geschlossenen Augen ihre Praline isst, den Kopf an das wuschelige Kunstfell gelehnt.
    Und sie sieht so friedlich und so glücklich aus.
    Draußen rüttelt der Wind an dem neu bemalten Schild, der Regen pladdert auf das Kopfsteinpflaster, und der Dezember ist nur noch einen Herzschlag entfernt. Und ich fühle mich hier so sicher und geborgen, dass ich fast vergesse, dass die Wände aus Papier sind und unser Leben aus Glas, dass ein Windstoß uns vernichten, dass ein Wintersturm uns davontragen kann.

5

    F REITAG , 23 . N OVEMBER
    Ich hätte wissen müssen, dass sie nachhilft. Genau das Gleiche habe ich ja auch getan, damals, in Lansquenet. Zuerst Alice und Nico, die sich so seltsam ähnlich sind; und ich weiß zufällig, dass er schon vorher ein Auge auf sie geworfen hatte und einmal in der Woche im Blumenladen vorbeischaut, um Tulpen zu kaufen (ihre Lieblingsblumen), aber bisher hat er nie den Mut gefunden, sie anzusprechen oder sie zu irgendetwas einzuladen.
    Aber nun auf einmal, bei einer Praline …
    Zufall, sage ich mir.
    Und jetzt Madame Luzeron, die immer so spröde und beherrscht ist, und plötzlich gibt sie ihre Geheimnisse preis, als würden aus einer Flasche, von der jeder dachte, sie sei längst ausgetrocknet, süße Düfte aufsteigen.
    Und dann

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