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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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kam heute Morgen vorbei – sie kaufte nichts, schaute sich aber alles genau an und ging erst wieder, nachdem sie eine Praline auf Kosten des Hauses verspeist hatte. Jean-Louis und Paupaul machten es genauso, und ich weiß, dass das Mädchen, das heute Morgen bei mir Trüffel gekauft hat, in der Bäckerei in der Rue des Trois Frères arbeitet und ihren Kunden alles erzählen wird.
    Es ist nicht nur der Geschmack , wird sie sagen. Die cremig dunkle Trüffel mit Rumgeschmack, eine Prise Chili in der Mischung, das butterweiche Innere, das auf der Zunge zergeht, und der bittere Geschmack der Kakaopulverschicht – aber all das erklärt nicht die seltsame Wirkung von Yanne Charbonneaus Schokoladentrüffel.
    Vielleicht ist es das Gefühl, das diese Trüffel einem geben: Man fühlt sich stärker, lebendiger, nimmt Geräusche und Gerüche intensiver wahr, sieht Farben und Formen viel deutlicher und spürt sich selbst besser, man spürt seinen ganzen Körper, die Haut, den Mund, die Kehle, die empfindliche Zunge.
    Nur eine , sage ich.
    Sie essen. Sie kaufen.
    Sie kaufen so viele, dass Vianne heute den ganzen Tag hinten arbeiten musste und den Laden mir überließ. Ich musste auch für die Leute, die hereinkamen, Schokolade kochen. Mit ein bisschen gutem Willen finden sechs Personen Platz – die Atmosphäre ist wohltuend: ruhig und entspannend, aber durchaus fröhlich. Die Leute können hierher kommen und ihre Sorgen vergessen, sie können herumsitzen, Schokolade trinken und reden.
    Reden? Und wie! Vianne ist die einzige Ausnahme. Sie redet nicht. Aber noch ist ja Zeit. Bescheiden anfangen, sage ich. Na ja, manchmal geht’s auch üppig zu. Wie im Fall des fetten Nico.
    »Hey, Schuhkönigin! Was gibt’s zum Mittagessen?«
    »Was hättest du denn gern?«, fragte ich. »Rosenpralinen, Chiliecken, Kokosmakroooonen …« Ich dehnte das Wort vielsagend, weil ich weiß, dass er eine Schwäche für Kokosnuss hat.
    »Auweia! Aber eigentlich darf ich ja nicht.«
    Es ist nur Theater. Er tut gern so, als würde er Widerstand leisten, grinst dämlich und weiß doch genau, dass er mir nichts vormachen kann.
    »Nimm eine«, sagte ich.
    »Nur eine halbe.«
    Halbe Pralinen zählen nicht. Genauso wenig wie eine kleine Tasse Schokolade, mit vier Makronen dazu, oder der Kaffeekuchen, den Vianne hereinbringt, oder der Zuckerguss, den er aus der Rührschüssel schleckt.
    »Meine Mama hat immer extra Zuckerguss gemacht«, erzählte er. »Damit ich noch mehr ausschlecken kann. Manchmal hat sie so viel Guss gemacht, dass nicht mal ich alles geschafft habe –« Er verstummte plötzlich.
    »Deine Mama?«
    »Sie ist gestorben.« Sein Babygesicht wurde ganz traurig.
    »Sie fehlt dir, stimmt’s?«, sagte ich.
    Er nickte. »Ich glaub schon.«
    »Wann ist sie gestorben?«
    »Vor drei Jahren. Sie ist die Treppe hinuntergefallen. Ich glaube, sie hatte ein bisschen Übergewicht.«
    »Das ist sicher nicht leicht für dich.« Ich konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. Ein bisschen Übergewicht hieß bei ihm wahrscheinlich hundertfünfzig Kilo. Sein Gesicht ist jetzt ganz leer – seine Farben wechseln ins Spektrum stumpfer Grüntöne und silberner Grautöne, die ich mit negativen Emotionen in Verbindung bringe.
    Er denkt, er ist schuld, das weiß ich. Vielleicht war der Teppich auf der Treppe locker, vielleicht ist er zu spät von der Arbeit nach Hause gekommen, hat in der Boulangerie eine kleine Pause eingelegt, tödliche zehn Minuten lang, oder er hat sich auf eine Bank gesetzt, um den Mädchen nachzuschauen –
    »Du bist nicht der Einzige«, sagte ich. »So geht es allen Leuten, weißt du. Ich habe mich auch schuldig gefühlt, als meine Mutter gestorben ist.«
    Ich nahm seine Hand. Unter der patschigen Fettschicht fühlten sich seine Knochen fein und zart an, wie bei einem Kind.
    »Es ist passiert, als ich sechzehn war. Ich denke die ganze Zeit, es ist meine Schuld.« Ich schaute ihn ganz ernst an, machte aber mit den Fingern eine Teufelsgabel hinter meinem Rücken, um nicht loszuprusten. Natürlich glaubte ich das – und aus gutem Grund.
    Aber Nicos Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Stimmt das?«
    Ich nickte.
    Ich hörte ihn seufzen. Er klang wie ein Heißluftballon.
    Ich drehte mich weg, um mein Grinsen zu verbergen, und beschäftigte mich mit den Pralinen, die auf der Theke seitlich von mir abkühlten. Sie rochen so unschuldig, wie Vanille und Kindheit. Leute wie Nico schließen selten Freundschaften. Immer der fette Junge,

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