Himmlische Wunder
anfühlt als sonst, dass die Wände zurückweichen, sich wölben, sich aufblähen –
Ich atme tief und regelmäßig und denke an Vianne.
Ihr Gesicht auf dem Bildschirm vor mir, sepiabraun, wie ein altes Zeitungsfoto. Um mich herum ein Kreis aus Lichtern, die ich aus dem Augenwinkel sehe. Sie ziehen mich an, wie Leuchtkäfer.
Was ist dein Geheimnis, Vianne?
Was ist dein Geheimnis, Anouk?
Was braucht ihr?
Der rauchende Spiegel beginnt zu schimmern. Vielleicht kommt das von der Droge. Eine visuelle Metapher, die Wirklichkeit wird. Ein Gesicht erscheint auf dem Bildschirm vor mir. Anouk, klar und deutlich wie eine Fotografie. Dann Rosette, mit einem Pinsel in der Hand. Eine verblasste Ansichtskarte der Rhône. Ein silbernes Armkettchen, viel zu klein für einen Erwachsenen, ein Kettchen, an dem ein Glücksbringer in Form einer Katze hängt.
Jetzt kommt ein Windstoß, Beifall schwillt auf, das Rauschen unsichtbarer Flügel. Ich spüre, dass ich mich etwas Wichtigem nähere. Und nun kann ich es sehen – es ist der Rumpf eines Bootes. Eines langen, langsamen Bootes. Langsamer geht’s kaum. Und eine handschriftliche Zeile, schnell hingekritzelt –
Wer? , frage ich. Wer, verdammt noch mal ?
Der Bildschirm gibt keine Antwort. Nur Rauschen, das Zischen und Brummen der Motoren unter der Wasseroberfläche, und dann gehen die Geräusche allmählich wieder über in das leise, dumpfe Surren des Laptops, in das Flirren des Bildschirmschoners, in die beginnenden Kopfschmerzen.
Wirrwarr. Wirrwarr.
Wie gesagt, diese Methode ist oft nicht besonders produktiv.
Trotzdem habe ich etwas erfahren, glaube ich. Jemand ist unterwegshierher. Kommt immer näher. Jemand aus der Vergangenheit. Jemand, der Schwierigkeiten mit sich bringt.
Noch ein Schlag dürfte reichen, Vianne. Noch eine Schwachstelle muss ich finden. Dann wird die Piñata ihren Inhalt freigeben, ihre Schätze und Geheimnisse. Und Vianne Rochers Leben wird endlich mir gehören – und natürlich auch ihr hochbegabtes Kind.
8
M ITTWOCH , 28 . N OVEMBER
Das erste Leben, das ich gestohlen habe, gehörte meiner Mutter. Man vergisst nie den ersten Diebstahl, auch wenn er noch so mühselig und ungeschickt war. Natürlich habe ich das, was ich getan habe, damals nicht als Diebstahl betrachtet; aber ich musste weg, der Pass meiner Mutter lag unbenutzt herum, ihre Ersparnisse vermoderten auf der Bank, und außerdem war sie so gut wie tot –
Ich war noch nicht mal siebzehn. Ich konnte älter aussehen – was ich oft tat – oder auch jünger, wenn nötig. Die Leute sehen selten, was sie zu sehen glauben. Sie sehen nur, was wir wollen, dass sie sehen – Schönheit, Alter, Jugend, Intelligenz, sogar Vergesslichkeit, wenn es sein muss –, und diese Kunst beherrschte ich fast bis zur Perfektion.
Ich nahm die Fähre nach Frankreich. Die Beamten warfen kaum einen Blick auf meinen gestohlenen Pass. So hatte ich es geplant. Ein bisschen Make-up, eine andere Frisur und der Mantel meiner Mutter vollendeten die Illusion. Der Rest spielte sich nur in den Köpfen ab, wie man so schön sagt.
Natürlich waren die Sicherheitskontrollen damals noch ziemlich locker. Ich überquerte den Kanal mit nichts als mit einem Sarg und einem Paar Schuhe – die ersten beiden Glücksbringer an meinem Armband –, und schon war ich drüben auf der anderen Seite. Ich sprach so gut wie kein Französisch und hatte kein Geld, außer den sechstausend Pfund, die ich vom Konto meiner Mutter abgehoben hatte.
Ich betrachtete das Ganze als Herausforderung. Ich fand einenJob in einer kleinen Textilfabrik am Rand von Paris und teilte mir ein Zimmer mit einer Arbeitskollegin, mit Martine Matthieu aus Ghana. Sie war vierundzwanzig und wartete auf ihre sechsmonatige Arbeitserlaubnis. Ich sagte, ich sei zweiundzwanzig und Portugiesin. Sie glaubte mir – oder jedenfalls dachte ich das. Sie war nett; ich war allein. Ich vertraute ihr und wurde leichtsinnig. Das war ein Fehler. Martine war neugierig, sie durchwühlte meine Sachen und entdeckte die Papiere meiner Mutter, die ich in der untersten Schublade versteckt hatte. Ich weiß nicht, warum ich sie überhaupt behalten habe. Fahrlässigkeit, vielleicht. Oder einfach Faulheit. Oder völlig unangebrachte Nostalgie? Ich hatte nicht vorgehabt, diese Identität noch einmal zu verwenden. Sie war zu eng mit St. Michael’s-on-the-Green verbunden – und es war wirklich großes Pech, dass Martine sich an den Fall erinnerte, weil sie in irgendeiner Zeitung
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