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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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darüber gelesen hatte, und das Foto mit mir in Verbindung brachte.
    Ich war noch jung, das darf man nicht vergessen. Schon der Gedanke, die Polizei könnte kommen, genügte, um mich in Panik zu versetzen. Martine wusste das genau und nützte es aus. Sie verlangte mein halbes Wochengehalt. Das war Erpressung, nichts anderes. Ich ließ mich darauf ein – was blieb mir anderes übrig?
    Klar, ich hätte weglaufen können. Aber schon damals war ich stur. Und vor allem wollte ich mich rächen. Also gab ich Martine jede Woche das Geld, war zahm und unterwürfig, ertrug geduldig ihre Launen, machte ihr Bett, kochte für sie und wartete auf den richtigen Augenblick. Als dann endlich ihre Arbeitserlaubnis kam, meldete ich mich krank und räumte in ihrer Abwesenheit alles aus der Wohnung, was ich irgendwie brauchen konnte (inklusive Geld und Pass), bevor ich sie, die Fabrik (und meine Kollegen) bei den Behörden verpfiff.
    Martine verschaffte mir den dritten Glücksbringer, den ich an mein Armband hängen konnte. Einen silbernen Anhänger in Form einer Sonnenscheibe. Das war der Anfang einer Sammlung, und für jedes Leben, das ich seither übernommen habe, fügte ich einen neuen Klunker hinzu. Diese kleine Eitelkeit gestatte ich mir – zur Erinnerung daran, wie weit ich es schon gebracht habe.
    Selbstverständlich verbrannte ich den Pass meiner Mutter. Ganz abgesehen von den unerfreulichen Erinnerungen, die ich mit ihm verband, wäre es viel zu gefährlich gewesen, ihn zu behalten. Aber insgesamt war es mein erster richtiger Erfolg, und wenn ich irgendetwas daraus gelernt habe, dann Folgendes: Für Nostalgie ist kein Platz, wenn Leben auf dem Spiel stehen.
    Seither haben ihre Geister mich vergeblich verfolgt. Geister können sich nur in geraden Linien fortbewegen (jedenfalls glauben das die Chinesen), und schon deshalb ist die Butte de Montmartre der ideale Zufluchtsort, mit ihren Stufen und Treppen und den engen, gewundenen Straßen, in denen sich kein Phantom zurechtfindet.
    Das hoffe ich wenigstens. Gestern Abend war wieder einmal ein Foto von Françoise Lavery in der Zeitung. Das Bild war irgendwie bearbeitet worden, denn es war weniger körnig, aber mit Zozie de l’Alba hatte es trotzdem nicht die geringste Ähnlichkeit.
    Die Untersuchungen haben allerdings inzwischen ergeben, dass die »richtige« Françoise irgendwann vergangenes Jahr gestorben ist, unter etwas zweifelhaften Umständen. Nach dem Tod ihres Ehemannes war sie klinisch depressiv und starb an einer Überdosis, die man für ein Versehen hielt, aber es konnte natürlich auch etwas anderes dahinterstecken. Ihre Nachbarin, eine junge Frau namens Paulette Yatoff, verschwand gleich nach Françoise’ Tod und war längst weg, als man herausfand, dass die beiden Frauen sich gut gekannt hatten.
    Tja, so ist es eben. Manchen Menschen ist einfach nicht zu helfen. Und ehrlich gesagt, ich hätte mehr von ihr erwartet. Diese mausgrauen Typen besitzen oft eine enorme innere Stärke – was in ihrem Fall leider nicht zutraf. Arme Françoise.
    Sie fehlt mir nicht. Ich bin gern Zozie. Alle mögen Zozie – sie ist so ganz sie selbst, und es ist ihr egal, was die anderen denken. Und wenn man in der Metro direkt neben ihr sitzt, käme man niemals auf die Idee, dass sie Ähnlichkeit mit Françoise Lavery hat.
    Trotzdem habe ich mir die Haare gefärbt, um auf Nummer sicher zu gehen. Schwarz steht mir sowieso. Mit schwarzen Haaren seheich französisch aus – oder vielleicht auch italienisch –, mein Teint bekommt diesen Perlmuttglanz, und meine Augenfarbe wird betont. Das passt gut zu der Person, die ich jetzt bin – und es schadet auch nichts, dass es den Männern gefällt.
    Als ich an einem regnerischen Tag an den Malern vorbeiging, die sich auf der Place du Tertre unter ihren Regenschirmen verkrochen hatten, winkte ich Jean-Louis zu, der mich auf seine übliche Art begrüßte.
    »Hallo, du bist es!«
    »Du gibst nie auf, was?«, antwortete ich.
    Er grinste. »Du etwa? Du siehst hinreißend aus heute. Wie wär’s mit ’nem schnellen Profil? Es würde sich auf der Wand von deiner Chocolaterie gut machen.«
    »Erstens ist es nicht meine Chocolaterie «, erwiderte ich lachend. »Und zweitens – vielleicht lasse ich mich ja wirklich mal von dir zeichnen – aber nur, wenn du meine Schokolade versuchst.«
    Tja, das war das, wie Anouk sagen würde. Noch ein Sieg für die Chocolaterie . Jean-Louis und Paupaul kamen beide, bestellten sich eine Schokolade und blieben

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