Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
Vom Netzwerk:
eine Stunde. Jean-Louis porträtierte in dieser Zeit nicht nur mich, sondern noch zwei andere junge Damen – eine Kundin, die hereinkam, um Trüffel zu kaufen, und die sofort seinen Schmeicheleien erlag, und dann noch Alice, weil Nico spontan ein Bild von ihr in Auftrag gab, als er seine übliche Ration Makronen erstand.
    »Habt ihr hier noch irgendwo ein Zimmer für einen Maler?«, fragte Jean-Louis, als er sich verabschiedete. »Dieser Laden ist der Wahnsinn. Er ist völlig anders als vorher –«
    Ich lächelte ihm zu. »Freut mich, dass es dir gefällt, Jean-Louis. Hoffentlich geht es allen Leuten so.«
    Selbstverständlich habe ich nicht vergessen, dass Thierry am Samstag zurückkommt. Ich befürchte, er wird auf sehr grundlegende Veränderungen stoßen – der arme, romantische Thierry, mit seinem Geld und seinem rührend veralteten Frauenbild.
    Es ist das Waisenkind in Vianne, das ihn anzieht, muss man wissen. Die tapfere junge Witwe, die ganz alleine kämpft. Die kämpft – aberohne Erfolg. Die eigensinnig ist, aber im Grunde doch extrem verletzlich. Aschenputtel, die auf den Prinzen wartet.
    Diese Eigenschaften sind es, die er an ihr liebt. Er bildet sich ein, dass er sie retten muss – wovor eigentlich? Weiß er das überhaupt? Er selbst würde das natürlich nicht so formulieren, er würde es auch niemals zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber. Aber es ist in seinen Farben: ein enormes Selbstvertrauen, ein gutmütiger, unerschütterlicher Glaube an die geballte Kraft seines Geldes und seines Charmes – und Vianne deutet das irrtümlicherweise als Bescheidenheit.
    Ich bin gespannt auf seine Reaktion, wenn er sieht, dass die Chocolaterie ein Erfolg ist.
    Hoffentlich ist er nicht enttäuscht.

9

    S AMSTAG , 1 . D EZEMBER
    SMS von Thierry, gestern Abend.
    Habe 100 Kamine gesehen, keiner wärmt mein Herz.
    Kann es sein, dass ich dich vermisse?
    Bis morgen,
    in Liebe Txx
    Heute regnet es. Ein feiner, gespenstischer Regen, der sich am Rand der Butte in diesigen Nebel verwandelt. Le Rocher de Montmartre sieht aus wie aus einem Märchen und wirft einen hellen Schein in die stillen, nassen Straßen hinaus. Der Umsatz heute übertraf alle Erwartungen, mehr als ein Dutzend Kunden an einem einzigen Vormittag, die meisten Gelegenheitskunden, aber auch ein paar unserer Stammgäste.
    Es ging alles so schnell, es sind noch nicht mal zwei Wochen, aber die Veränderung ist überwältigend. Vielleicht ist es ja nur die neue Aufmachung des Ladens. Oder der Geruch schmelzender Schokolade. Oder das Schaufenster, das alle Blicke auf sich zieht.
    Auf jeden Fall hat sich unsere Kundschaft vervielfacht, zu uns kommen Leute aus der Gegend genauso wie Touristen, und was für mich zuerst nur eine Ablenkung war, um in Übung zu bleiben, ist jetzt eine ernsthafte Arbeit geworden. Zozie und ich haben alle Hände voll zu tun, um die wachsende Nachfrage nach meinen selbst gemachten Pralinen zu befriedigen.
    Heute haben wir fast vierzig Schachteln gefüllt. Fünfzehn mit Trüffeln (die immer noch sehr gut gehen), aber auch Kokosecken,Sauerkirsch- Bâtons , Bitterorangeat, Veilchenpralinen und mindestens hundert Lunes de miel , diese kleinen Schokotaler, auf denen das Gesicht des zunehmenden Mondes in Weiß auf die dunkle Oberfläche gespritzt wird.
    Es macht so viel Spaß, eine Schachtel zu packen; die Pralinen gewissenhaft auszuwählen, zu sehen, wie sie zwischen den Falten des knisternden maulbeerfarbenen Papiers liegen, sich über die Form der Schachtel Gedanken zu machen – herzförmig oder rund oder quadratisch? –, die verschiedenen Aromen von Sahne, Karamell, Vanille und dunklem Rum einzuatmen, das Band und die Schleife auszuwählen, sich für eine Verpackung zu entscheiden, Papierblumen oder -herzen dazuzugeben, dem seidigen Rascheln des Reispapiers nachzulauschen …
    Das alles hat mir seit Rosettes Geburt so gefehlt. Die Hitze der Kupfertöpfe auf dem Herd. Der Geruch der schmelzenden Kuvertüre. Die Keramikformen, die mir so vertraut sind wie der Weihnachtsschmuck, der in einer Familie von Generation zu Generation weitergereicht wird. Stern, Viereck, Kreis. Jeder Gegenstand hat seine Bedeutung, jede Bewegung, so oft wiederholt, birgt eine Welt voller Erinnerungen.
    Ich besitze keine Fotos. Keine Alben, keine Andenken, außer den paar Dingen in der Kiste meiner Mutter: die Karten, die Zeitungsartikel, der kleine Katzen-Glücksbringer. Meine Erinnerungen werden anderswo aufbewahrt. Ich kenne jeden Riss, jeden

Weitere Kostenlose Bücher