Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
schütteln. All das lässt uns reifen und bewusster werden. Wir beginnen mit jeder Krise vertrauter mit unserer Seele zu werden, und nach und nach rückt mit dem Alter auch die spirituelle Frage in den Blick. Will sagen: Der Weg der erotischen Lebenskunst folgt dem natürlichen Lauf der Dinge. Er ist eigentlich … ganz normal.
Und obwohl er – erstaunlich genug – so völlig normal ist, führt er uns über die Spanne eines wachen und bewussten Lebens hin zu einem reichen, erfüllten, blühenden Leben; das wir, wenn es aufs Ende zugeht, dann vielleicht auch loslassen und in Liebe gut sein lassen können. Ja, ich bin mir sicher: Wir werden gelassener, wenn uns das Leben in tausend Gesichtern seine Schönheit zeigt; auch an seinen dunklen Stellen, auch wo gestorben wird, auch wo gelitten wird, auch wo das Elend herrscht. Selbstda wird ein erotisch reifer Mensch das Wunder des Lebens erblicken. Dort wird er sich liebevoll ebenso den Menschen zuwenden, die leiden oder Verbrechen begehen. Okay, das setzt einen sehr, sehr hohen Grad an erotischer Reife voraus. Etwa das Niveau, das ein Jesus oder ein Franziskus hatten … Naja, darauf komme ich später nochmal zurück.
Aber nach diesen Idealen müssen wir gar nicht schielen. Für uns reicht es, immer den nächsten Schritt im Auge zu haben: Wie kann ich in die Liebe fallen? Wie kann ich noch etwas tiefer in sie fallen? Wo gibt es eine neue Schönheit zu entdecken? Wie kann ich noch empfänglicher und achtsamer werden für die Schönheit, die da ist? Eros liebt die kleinen Schritte. Weil er nichts auslässt. Also: Schau hin! Hör hin! Vielleicht geht es dir dann so wie Lester Burnham, der Hauptfigur in dem wunderbaren Film „American Beauty“, der ganz am Ende der Geschichte sagt:
„Es fällt schwer, wütend zu sein, wo es so viel Schönheit auf der Welt gibt. Manchmal habe ich das Gefühl, all die Schönheit auf einmal zu sehen, aber das wäre zu viel. Mein Herz fühlt sich dann an wie ein Ballon, der kurz davor ist, zu platzen. Und dann geht mir durch den Kopf: Ich sollte [...] aufhören zu versuchen, die Schönheit festzuhalten. Dann durchfließt sie mich wie Regen, und ich kann nichts empfinden außer Dankbarkeit für jeden einzelnen Moment meines dummen, kleinen Lebens.“
Unsterblich verliebt
Love always seeks the ultimate real
.
Beatrice Bruteau
Schönheit macht uns an, Schönheit zieht uns an, Schönheit reißt uns hin: hin zu unseren Geliebten, hin zu uns selbst, hin zum Leben im Ganzen. Schönheit ist der Pfeil des Eros – Schönheit lässt uns in die Liebe fallen: tief und tiefer, immer tiefer in unsere eigene Seele, in der wir verbunden sind mit allem Leben, allem was ist. Ohne Schönheit kein Eros, keine Erotik des Lebens. Wow, die Schönheit! Ein Glas auf die Schönheit!
So, und nachdem wir nun die Schönheit gefeiert haben, möchte ich dich wieder ein bisschen verwirren. Lass uns noch ein bisschen philosophieren und dafür zurückkehren zu Platons
Symposium
, zur Rede der Diotima. Die vollzieht in ihrer Ansprache an Sokrates nämlich eine überraschende Wende. Sie sagt: Wir glauben immer, dem Eros gehe es um Schönheit und er wolle sich mit dem Schönen vereinigen. Wir glauben, wenn wir uns verlieben, wollten wir uns Schönheit aneignen. Das stimmt aber nicht oder es stimmt nur zum Teil. In Wahrheit, so Diotima, zielt unser Verliebtsein nicht auf Schönheit, sondern auf Unsterblichkeit. Die Schönheit – oder Aphrodite, wie Diotima sagt – ist eine „geburtshelfende Gottheit“ bei unserer Transformation zur Unsterblichkeit.
Was soll das? Du hast ja die Briefe an meine frühere Geliebte gelesen: Darin hatte ich mich daran erinnert, dass es für uns, als wir in die Liebe gefallen waren, unmöglich erschien, dass diese Liebe jemals endet. Es war ganz klar:
And I will always love you
. (Whitney Houston). Uns streifte ein Hauch von Ewigkeit und Unsterblichkeit. Etwas in uns spürte: „Wow, das hier kommt aus einer anderen Dimension.“ Und eben das war der Vorgeschmack darauf, wie es ist, wenn das Leben in uns ganz zu sich selbstgekommen ist: vollkommen, sinnvoll, bejahenswert – zeitlos. Das war der Vorgeschmack auf das Leben, zu dem Eros uns tragen will – dem Leben in der Liebe, dem Leben im Sinn, dem blühenden, entfalteten, reifen Leben.
Eros geht es um dieses sinnvolle, stimmige, zeitlose Leben. Man kann auch sagen: Es geht ihm um Unsterblichkeit. Und die Sehnsucht danach treibt ihn voran, von Schönheit zu Schönheit zu Schönheit,
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