Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
hinweggegangen, als ich die körperliche Liebe kurzerhand zur subtilen Ausdrucksform menschlicher Sehnsucht nach Unsterblichkeit umdefinierte. Du sagst, das sei dir zu sehr gedacht und zu wenig erfahren. Beim Sex gehe es doch viel mehr um die Lust der Vereinigung als um den Hunger nach ewigem Leben oder dergleichen; und dass du dich genau daran erinnerst: Sex! Du wolltest Sex, als du in die Liebe fielst – du wollest zu ihr, in sie. Du wolltest in sie eindringen, und sie wollte dich auf sich spüren, in sich fühlen. Ihr wolltet so eng beieinander sein, wie es nur gerade geht. Ihr wolltet euch vereinen. – Unsterblichkeit? Nachwuchs? Nicht doch, das war nicht euer Thema, selbst wenn „Mutter Natur“ womöglich dieses Programm im Hintergrund laufen ließ. Aber was ihr ganz sicher wolltet, war Nähe, Vereinigung, gemeinsames Verschmelzen im heißen Ozean eurer Liebe. Und das fühlte sich richtig gut an, oder?
Damit sprichst du ein wichtiges Thema an: die Sehnsucht nach Vereinigung, nach Eins-Sein, nach Einheit. Klar, auch sie gehört zur erotischen Liebe dazu. Sie ist sogar ein zentraler Aspekt. Denn neben dem Hinge-rissen-Sein von Schönheit und dem Hunger nach Unsterblichkeit ist die Sehnsucht nach Eins-Sein die dritte starke Antriebskraft auf dem Weg der erotischen Reife – die dritte Qualität der erotischen Lebenskunst. Und im Blick auf die beiden anderen Triebfedern gilt auch für sie: Die Sehnsuchtnach Vereinigung und Eins-Sein hört nicht auf, solange wir in der Liebe sind. Ihr in jeder Dimension des Bewusstseins Ausdruck zu verleihen, ist das Kennzeichen eines umfassenden Verliebtseins ins Leben.
Noch einmal: Wenn wir uns verlieben, hat das zunächst eine leibliche Komponente. Verliebte möchten ihrer Liebe körperlichen Ausdruck verleihen. Sie wissen sich so innig verbunden, dass ihre Körper so nahe beieinander sein wollen, wie es nur geht. Und das Maximum des Möglichen ist nun mal der Beischlaf. Im Körperbewusstsein bringt Eros sich daher als sexuelle Leidenschaft zur Geltung, als die Sehnsucht nach körperlicher Verschmelzung, nach restlosem Ineinander-Aufgehen in den Ekstasen des Orgasmus, in denen unsere Körper in Freude und Glück erbeben. Mmmh, das sind die großen Stunden des Körpers – die Stunden, in denen wir nichts, aber auch gar nichts dagegen haben, einfach nur Körper zu sein, 100 Prozent Körperbewusstsein. Da feiert das Leben sein Fest, und das Instrument, mit dem es aufspielt, sind unsere nackten Körper.
Naja, und weil wir Menschen nun einmal immer auch Körper sind, schwingt in jeder Verliebtheit eine sexuelle Note: die Note des Bedürfnisses, der so stark gefühlten Verbundenheit durch körperliche Nähe Ausdruck zu verleihen. Sicher wird diese Schwingung im Laufe eines Lebens schwächer, sicher wird die Sehnsucht nach sexueller Vereinigung an Intensität verlieren, wenn die Sehnsucht nach spiritueller Vereinigung in uns größer wird. Doch der Impuls, die Menschen, denen wir uns verbunden wissen, auch körperlich nahe zu sein, wird dadurch wohl nie erlahmen.
Aber so weit sind wir noch nicht. Vor die Sehnsucht des Geistes nach spiritueller Vereinigung haben die Götter die Sehnsucht des Ich nach bleibender Verbindung gestellt. Und diese Sehnsucht nimmt spätestens dann Überhand, wenn der sexuelle Vereinigungs-Drive in uns erste Früchte trägt: wenn Nachwuchs geboren ist. Dann ändert sich die Erscheinungsform der Sehnsucht nach Einheit. Dann wird sie subtiler. Dann tritt das Ich auf den Plan – und die Dinge fangen an, kompliziert zu werden. Denn das Ich sucht nicht Verschmelzung der Körper, sondern stabile Beziehungen. Kaum sind die Laken getrocknet und die Liebenden müde, meldet es sichzu Wort und sagt: „Und das muss jetzt so bleiben. Kein anderer soll mir den Liebesten/die Liebeste berühren. Er/sie soll mein sein, und zwar für immer.“ Eifersüchtig wacht das Ich über die Treue seiner selbst und seiner Liebsten. „Nur ich und du – bis dass der Tod uns scheidet“, so haben wir es gern, wenn wir so ganz und gar im Ich-Bewusstsein schwingen – getrieben von einem machtvollen Begehren nach Habe und Besitz. Als Immanuel Kant einst die Ehe als „die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ definierte, da hatte das Ich-Bewusstsein seine große Stunde.
Da brachte der alte Philosoph ziemlich präzise auf den Begriff, wie bis heute die meisten Menschen landläufig Liebe, Erotik und
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