Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
weniger an unseren Bildern und Idealen hängen, sondern reifer, bewusster, erwachsener und schöner werden: dass wir uns in andere zu verlieben lernen, ohne sie besitzen zu müssen.
Das ist für viele nicht einfach, und oft straucheln sie schon bei dieser ersten Etappe von Diotimas „Ausfahrt auf das weite Meer des Schönen“. Das hat damit zu tun, dass es bei diesem erotischen Reifungsprozess nicht nur um die Weitung unseres Horizontes für das Schöne geht, sondern auch um ein Eintauchen in die Tiefe des eigenen Seins. Anders gesagt: Der erotische Reifungsprozess ist gleichzeitig der Prozess der Durchdringung der eigenen Seele, des Ausfüllens unseres höchst individuellen „Seelenwürfels“ mit dem Licht der Liebe.
Was ist damit nun wieder gemeint? Der zweite Schritt in Diotimas „Ausfahrt auf das weite Meer des Schönen“ war das Sich-ansprechen-Lassen von mehr als nur einem schönen Körper. Wir bewegen uns hier also ganz offensichtlich in der Dimension des Körperbewusstseins. In Phase 3 wird das anders: Jetzt werden wir uns dessen bewusst, dass es nicht nur schöne Körper gibt, sondern auch „schöne Seelen“. Und es gibt nicht nur schöne Seelen, in Phase 4 gibt es auch schöne Lebensformen, schöne Künste und schöne Wissenschaften – bis wir dann in Phase 5 an den Punkt gelangen, an dem wir die Schönheit in allem und deswegen überall Schönes gewahren.
Wenn wir nun noch einmal unsere Skala der „Wahrnehmung von Schönheit“ anschauen, können wir sie also wie folgt verfeinern:
Und das können wir nun noch um unsere Bewusstseinsdimensionen Körperbewusstsein, Seelenbewusstsein, Geistbewusstsein ergänzen:
Der erotische Reifungsweg führt also vom Körperbewusstsein über das Seelenbewusstsein bis zum Geistbewusstsein. Das ist die Dynamik des erotischen Wachstums.
Aber wo ist eigentlich das Ich-Bewusstsein geblieben? Gute Frage! Das Ich-Bewusstsein ist unser Alltagsbewusstsein. Es koppelt sich zunächst ans Körperbewusstsein: „Sie ist mein. Ich begehre sie. Ich will sie haben. Ihr Körper gehört mir.“ So sprichst du aus dem Ich-Bewusstsein gekoppelt mit Körperbewusstsein. Schon in Phase 2 tritt diese starke, überaus weit verbreitete Koppelung zurück: „All diese schönen Menschen! Sie machen mich an, aber ich kann sie unmöglich alle haben! Ich kann sie unmöglich alle besitzen!“ Und nun stellen wir uns noch eine Phase 2b vor (die bei Diotima nicht vorkommt): die schöne Natur, die schönen Blumen, Berge, Flüsse etc.: „Wie schön dieser Anblick! Ich kann mich nicht von ihm wenden! Aber ich schaue einfach nur hin und lasse mich von dieser Schönheit begeistern!“
Was sagt uns das? Eros transzendiert das Ich. Schon in Phase 2 der erotischen Bildung tritt das Ich zurück. Und je weiter wir in die Liebe fallen und ihren Horizont weiten, desto mehr verliert das Ich seine Macht über uns.
Aber weil wir alle so sehr mit unserem Ich identifiziert sind, fällt uns schon der erste Schritt so unendlich schwer, bei dem es darum geht, dieIch-Fixierung unseres sexuell-körperlichen Begehrens aufzulösen. Das ist wie bei einem Raketenstart: Der erste Meter ist der schwierigste. Aber wenn wir ihn gemeistert haben, dann trägt Eros uns ganz von allein weiter. Dann können wir auf seinen Flügeln durchs Leben segeln. Ohne Treibstofftank. Denn unser Eros wird von einer regenerativen, höchst nachhaltigen Energiequelle angetrieben: der Schönheit. Und die sehen wir jetzt immer öfter. Je mehr wir sie sehen, desto freier und stärker werden wir. Nach und nach verlieben wir uns ins Leben, nach und nach treten wir ein ins Sein in der Liebe und in den Raum unserer Seele.
„Und dann?“, fragst du. – Dann kannst du dich in Menschen genauso verlieben wie in eine schöne Musik. Du kannst sie mit glühender Begeisterung lieben, aber sie besitzen zu wollen, läge dir fern. Trotzdem kannst du dich in sie verlieben. Du kannst dich in eine schöne Blume, in den gestirnten Himmel über dir, in ein schönes Bild, in eine schöne Seele verlieben. Du kannst dich von all dem befeuern lassen, dir durch sie deiner Verbundenheit mit allem bewusst werden. Alles, was dir begegnet, kräftigt und stärkt dich. Wenn du nun vor die Tür trittst und ein milder Lufthauch dich streift, geht dir das Herz auf – genauso wie angesichts des schönen, geschwungenen Hinterns vor dir auf der Rolltreppe. Aber weder das eine noch das andere musst du in deinen Besitz bringen. Weder mit dem einen noch mit dem
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