Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben

Ich-Fixierung auflösen und uns eine innere Freiheit im Verhältnis zu uns selbst vermitteln – was oft heilsam und hilfreich in Krisen ist, die letztlich durch das Festklammern an unsere Selbstbilder,unser Haben-Wollen und Begehren verursacht wurden. Spirituelle und mystische Erfahrungen gewähren uns ein erstaunliches Maß an Freiheit – vor allem Angstfreiheit –, aber sie entzünden oft nicht in uns das Feuer des Herzens, der leidenschaftlichen Liebe. Es sei denn, sie verbinden sich mit dem erotischen Weg.
    Therapeutische und spirituelle Antworten sind gut und richtig, wenn die großen Krisen des Lebens an uns rütteln. Aber wenn wir sie nutzen wollen, um durch sie hindurch zu unserer eigenen Blüte zu reifen, dann müssen wir sie um den erotischen Weg ergänzen – und zwar den des reifen, erwachsenen Eros, dem es nicht um das Haben des Ich, sondern um das Sein der Seele geht. Therapeutische und spirituelle Praktiken und Übungen sind kostbar, doch wirklich in den Dienst des Lebens nehmen wir sie erst, wenn sie von der erotischen Energie des Herzens befeuert werden. Deswegen ist es so wichtig, die Krisen des Lebens als Chancen zu verstehen, den Weg in die Liebe, ins Herz zu finden und dem Eros in dir Raum zu geben.
    Aber noch einmal: Wie machen wir das? Eros flüstert dir zu als Sehnsucht: „Komm, komm; komm zu dir; komm in die Liebe; komm nachhaus!“ Nur hören wir ihn oft nicht. Selbst wenn wir ihn hören, hören wir ihm nicht zu. Und selbst wenn wir ihm zuhören, wissen wir nicht, wo unser Zuhause ist. Dann kommt die Krise und zeigt dir immerhin eines: „Das hier ist nicht dein Zuhause. Du musst dein Leben ändern!“ – Dann ist es an der Zeit, endlich diesem Ruf zu lauschen, auf Empfang zu schalten, innezuhalten in der Oberflächendynamik, um in die Tiefe zu gehen und dich auf oder in die Liebe einzulassen.
    Du bist beruflich unzufrieden. Dein Job frisst dich auf. Du wirst gemobbt, gefeuert. Der Erfolg bleibt aus. Du bist ausgebrannt. Und nun? Halte inne. Komm zu dir. Such die Stille. Dort hörst du das Flüstern des Eros. Er flüstert als Sehnsucht oder als Erinnerung. Was war es doch? Wovon träumtest du einst? Was wolltest du werden, als du noch zur Schule gingst? Was begeistert dich auch heute? Was macht dir Freude? Was geht dir leicht von der Hand? – Du hast alle Antworten in dir. Unddu weißt es. Nur mag das Ich sie ungern hören. Doch wenn du Eros in dir sehnsüchtig sein lässt, dann wirst du sie vernehmen. Dann kann er dir den Weg aus der Krise weisen und dich befeuern, antreiben – mit Lust und Leidenschaft versehen, wie es kein Therapeut und kein spiritueller Meister vermag. Dann kannst du beherzt voranschreiten – verliebt in die Vision und den Traum, der dich leitet. Angezogen von seiner Schönheit, die dich hinreißt – und heraus aus der Krise.
    So einfach könnte es sein – könnte es sein, wenn wir bereit wären, einmal still und empfänglich zu werden. Die Alten waren klug, dass sie ihre Leute in die Stille und Einsamkeit schickten, um dort ihre Vision zu suchen. So etwas täte uns immer noch gut – jedenfalls besser als das neununddreißigste Coaching, Persönlichkeitstraining oder was sonst alles ein gutes Gefühl macht, am Ende aber die alten Muster und Bahnen des Ich nicht sprengt, weshalb wir doch immer so weitermachen wie gehabt, gefangen in den Kreisläufen unserer Vorstellungen, Gewohnheiten, Selbstbilder, Wünsche, Sicherheitsbedürfnisse. All das überschattet dann die Lock- und Warnrufe der Seele, die in der Mitte des Lebens auftauchen. Und so schneiden wir uns von der erotischen Energiequelle ab. Ja, das Ich hat eine große Schere in der Hand: Es liebt es, zu ent-scheiden, Ur-teile zu fällen – und sich dadurch den Eros vom Halse zu halten.
    Wie gut also, dass es trotz allem die Sprengkraft des Eros gibt. Denn nichts und niemand vermag das Ich so gut zu transzendieren und in das Größere der Seele zu integrieren wie die Erfahrung des Verliebtseins und In-der-Liebe-Seins. Denn Eros hat die Kraft, uns über die Grenzen des Ich hinauszuziehen: Locker und gnadenlos setzt er sich über die Grenzen hinweg, die ich mir mit meinem Ich gesetzt hatte. Er radiert meine fixen Ideen aus, er flattert munter über die Zäune hinweg, mit denen ich die Benutzeroberfläche meines eigenen Lebens definiert hatte.
    Für das Ich ist Eros meistens der Gau – die totale Krise. Für die Seele hingegen ist er ein Fest. Denn in die Liebe zu fallen heißt immer auch: aus der Dominanz des