Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
Geilheit, Chaos und Quatsch. Unser Karneval ist ein später, müder Nachfahre davon.
Auch in unseren Tänzen lebt etwas davon weiter; im griechischen Sirtaki sowieso, ebenso im Tango und in anderen lateinamerikanischen Tänzen: eine Mischung aus Form und Ordnung, Führung und Spontaneität, Regel und Chaos; vor allem aber äußerst erotisch.
Schönheit, an der sich Eros entzündet, eignet fast immer diese Mischung: fassbar und unfassbar, greifbar und ungreifbar, geordnet und chaotisch – aber eben eine Mischung, die diese Pole dann doch in sich zusammenzufassen vermag, Werk und Stimulanz des Eros zugleich. Werk, sofern er als Vermittler von Mensch und Gott auch die Kraft aufbringt, den Ausgleich zwischen diesen Polen zu schaffen; Stimulanz, weil es uns erregt, diesem Spiel des Lebens beizuwohnen und vorgeführt zu bekommen, wie es gelingen kann, die größten Extreme des Lebens – Leid und Lust, Tod und Leben, Ordnung und Chaos – doch zu einem in sich stimmigen Ganzen zu integrieren.
Ohne dich mit Philosophie langweilen zu wollen, sei mir doch gestattet zu erwähnen, dass der junge Nietzsche daraus eine große Sache gemacht hat – und dass die Gedanken, die ich gerade vorgetragen habe, größtenteils von seiner
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
inspiriert sind. Dort hat Nietzsche die griechische Tragödie deshalb als die für ihn vollkommene Kunstform gefeiert, weil sich in ihr Dionysisches und Apollinisches in eine vollkommene Synthese fügen. Und ich würde ergänzen: weil in ihr beispielhaft deutlich wird, welcher Art die Schönheit ist, an der sich Eros entzündet. Diese Schönheit ist die Schönheit des Lebens selbst – die Schönheit des in sich stimmigen Lebens, das alle seine Anteile in Liebe bejaht, selbst da, wo sie unvereinbar scheinen. Das Leben besteht nun mal aus Ordnung und Chaos, und das ist wohl der Grund dafür, dass wir es so hinreißend schön finden, beides in stimmiger Ganzheit leben zu können – wie eben beispielhaft beim Tanz.
Die erotische Schönheit, die aus Dionysos und Apollon gemischt ist, inspiriert und verführt dich also nicht nur dazu, ein wohltemperiertes, geordnetes Wesen zu sein, sondern sie feuert dich auch dazu an, deine wilden und zügellosen Anteile zu leben. Sie verheißt dir eine Vollkommenheit, die gerade darin vollkommen ist, dass nichts in ihr ausgeschlossen wird, noch nicht einmal die Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit, noch nicht einmal das Dunkle, das Hässliche, das Triebhafte, das wir sonst aus unserem Bewusstsein ausblenden. All das lässt sich mit der erotischen Kraft der Liebe in der eigenen Seele bejahen und integrieren, und genau das macht ein volles, sattes, reifes, blühendes und üppiges Leben aus – ein Leben, bei dem Dionysos und Apollon sich die Hand reichen.
Noch etwas ist mir an dieser erotischen Schönheit wichtig: Sie ist so herrlich unmoralisch, dafür aber auch hinreißend menschlich, und darin zugleich wohltuend befreiend. Schau mal: Wenn eine Tragödie einen Menschen wie Ödipus darstellt, dann zeigt sie ihn in all seiner inneren Zerrissenheit, seinem inneren Ringen; sie zeigt ihn als eine tragische Figur, die zwischen Wissen und Unwissenheit schwebt, die nur das Gute will und in ihrer Verblendung doch das Böse schafft. Wie alle großen Mythen erzählt sie eine Geschichte von Trennung, Wiedervereinigung und Versöhnung. Sie zeigt die dunklen ebenso wie die hellen Seiten des Lebens. Mit moralischen Kriterien kannst du diesen Geschichten überhaupt nicht gerecht werden. Das greift schlicht ins Leere. Du kannst sie auch nicht ästhetisch uninteressiert genießen, dafür gehen sie dich viel zu sehr an; mit einem entflammten Herzen aber kannst du dich für sie begeistern und ihre eigentümliche Schönheit lieben, die gerade in diesem vollkommenen Ton von Licht und Dunkel, Glück und Leid, Gut und Böse schwingt. Genau darin wird deine Seele das entdecken, wonach auch sie sucht: den inneren Einklang von allem, was du bist.
Wo du mit den Augen der Seele und des Herzens diese Schönheit eines ganzen, integrierten Lebens wahrnimmst, da erinnert sie dich daran, worum es geht in unserem Leben: nicht darum, alles richtig zu machen; nicht darum, moralisch gut zu sein; nicht darum, deinen oder anderenIch-Mustern zu entsprechen; sondern darum, das Leben so zu nehmen und zu feiern, wie es ist – seine Facetten in einem Ganzen zu integrieren, Chaos und Ordnung zu verbinden. Kurz: zu tanzen. Und ist es nicht das, was du immer schon
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