Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
starrt, sondern auch die schöne Seele zu erkennen vermag – die Seele, die ihre kontroversen Anteile in sich integriert hat; die gerungen hat mit sich selbst; die Licht und Schatten zu einem irisierenden Ganzen verknüpft hat. Schöne Seelen stecken nicht unbedingt (allerdings häufig dann doch) in schönen, harmonischen Körpern. Den gängigen Schönheitsidealen, denen in unserer pornographisierten Welt gehuldigt wird, müssen sie nicht entsprechen. Aber wo sie unsbegegnen, da ist ein stilles Leuchten um sie, das dein erotisch geschulter Blick sogleich erkennt und liebt – eine Aura, die der Eros in dir einfach nur hinreißend findet.
Apollon küsst Dionysos
Das Chaos will anerkannt,
will gelebt sein,
ehe es sich in eine
neue Ordnung bringen lässt
.
Hermann Hesse
Hey, dass du dich so für die alten Griechen begeistern würdest, hätte ich nicht erwartet. Aber deine Reaktion ermutigt mich, noch einen Schritt weiter zu gehen – um das Thema Schönheit und Erotik noch etwas mehr zu vertiefen und noch etwas klarer zu bekommen, was das für eine Schönheit ist, die dich als erotisch gestimmten Menschen so zu begeistern vermag, dass du angesichts ihrer hin und weg bist.
Dass das etwas mit Harmonie zu tun hat, siehst du sicher auch so. Nicht nur die alten Griechen, sondern auch die Künstler der Renaissance haben eine große Sache daraus gemacht, mittels des „Goldenen Schnitts“ Proportion und Balance in ihre Werke zu bringen. Ich habe ein schönes Zitat gefunden, das dies bestätigt. Es stammt von Leon Battista Alberti, der sagte, die Schönheit sei „eine bestimmte gesetzmäßige Übereinstimmung aller Teile, was immer für einer Sache, die darin besteht, dass man weder hinzufügen noch hinwegnehmen oder verändern könnte, ohne sie weniger gefällig zu machen“ – Harmonie, mit einem Wort. Wobei mir diese Formulierung und die Lehre vom „Goldenen Schnitt“ etwas zu sehr an der Oberfläche bleiben. Denn der eigentliche, erotische Kitzel entzündet sich nicht so sehr an der Harmonie der Komposition, sondern an der Balance von Vordergrund und Hintergrund, von Fläche und Tiefe, von Zeigen und Verbergen. Und ich glaube, es war das Genie der alten Griechen, genau diese Spannung erzeugen und halten zu können.
Du fragst jetzt vielleicht, ob ich diese streng harmonisch, proportional aufgebauten Kunstwerke der Alten nicht oft steril und leblos fände; zu perfekt irgendwie. Ja, das geht mir manchmal so, aber dann handelt es sich eben nicht um große Kunst, sondern um manirierte Kopien echter Werke. Die großen Werke haben etwas an sich, das sie unvergleichlich schön macht: Sie sind nicht nur harmonisch geordnet, sondern in ihnen spielt eine eigentümliche Harmonie von Ordnung und Chaos, von Struktur und Spontaneität, von Licht und Dunkel. Ich glaube, die eigentliche Größe dieser durch und durch erotischen alten Griechen lag darin, dass sie die höchste Form von Harmonie verwirklichen konnten – die Synthese von Harmonie und Chaos.
Man muss sich das mal klarmachen: Bei allem, was sie anfingen, versuchten sie harmonische Verhältnisse zu schaffen. Damit huldigten sie Apollon, den man nachgerade als Gott der Harmonie bezeichnen kann. Aber gleichzeitig verehrten sie dessen gerades Gegenstück, Dionysos, den Gott der Zerstörung, der Auflösung, den Zertrümmerer jeglicher harmonischen Ordnung. Dem Dionysos war der Rausch heilig, er liebte den Taumel und das Ungestaltete, Unfassbare. Dionysos ist so etwas wie die Personifikation des blanken Potenzials, des nackten Chaos. Deshalb stand er mit der Fruchtbarkeit, der Vegetation genauso in Verbindung wie mit dem Wein, mit der ausschweifenden Sexualität genauso wie mit dem rhythmischen, wilden Tanz. Von wegen Harmonie und Balance – wo immer Dionysos erscheint, tritt genau das Gegenteil ein.
Und nun stell dir vor, welche unglaubliche Weisheit die alten Griechen besaßen, dass sie diese rauschhafte, taumelnde Gottheit dem Apollon an die Seite stellten; dass sie nicht nur ihr wichtigstes Heiligtum – Delphi – beiden widmeten, sondern beider Wesen in ihrer Kultur zusammenfügten und eine Kunst und Lebensform schufen, die Balance zwischen geordneten Verhältnissen und chaotischem Durcheinander hielten. Besonders markant ist ihnen das im Theater gelungen. Dort wurde dieser Ausgleich sogar zum Programm erhoben, denn es war üblich, dass auf eine Trilogie von Tragödien – etwa die Orestie – zuletzt das Satyrspiel folgte, ein wilderReigen voller Lust,
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