Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
verlieben: in die nackten Brüste der Frauen, aber auch die muskulösen Körper der Männer. So viel Schönheit, so viel Erotik – so wenig Pornographie.
Denn eben das macht den Unterschied: Während mich pornographische Werke an die Fläche locken, führen erotische Werke in die Tiefe. Sie öffnen meinen Seelenraum und wecken in mir die Ahnung von Vollkommenheit, von einem guten Leben – einem Leben, das so schön ist, so festlich und blühend wie die nackten Leiber eines Rokoko-Bildes. Erotik führt in die Tiefe, und sie führt in die Höhe. Sie gilt mir in der Ganzheitmeines Seins: meiner Sexualität und Körperlichkeit, meiner Spiritualität und Geistigkeit, meinem Herz und meiner Seele. Aber warum funktioniert das? Warum eignet manchen Darstellungen von Nacktheit der Zauber der Erotik, während andere nur flach und pornographisch wirken? Willst du meine Antwort hören? Weil sie aus einer erotischen Haltung geschaffen wurden, weil sie Ausdruck einer Sehnsucht nach Vollkommenheit, Göttlichkeit, Unsterblichkeit, Schönheit sind; weil da jemand war, der
con amore
zu Werke ging.
Doch damit ist die Frage nicht beantwortet. Sie ist nur verlagert. Jetzt lautet sie: Worin bekundet sich dieses
con amore
? Kann ich es einem Bild oder einer Skulptur ansehen, dass ihr Künstler vom Eros bewegt wurde? Und wenn ja: Gibt es Kriterien, die ich dafür geltend machen kann?
Ich hatte bereits den alten griechischen Gedanken vorgetragen, wonach Schönheit als das Hinreißende definiert ist; was bedeutet, dass alles, was mich hinreißt, deshalb schon per se schön ist – selbst, wenn es überhaupt nicht den in Geltung stehenden Schönheitsidealen entspricht. Ich hatte dir vom ästhetischen Schönheitsverständnis erzählt, wonach das Schöne dasjenige ist, angesichts dessen ich mich frei fühlen und interesselos genießen kann. Die Fragen, die jetzt im Raume stehen, sind die: Hängt Schönheit wirklich nur an der inneren Erfahrung dessen, der sie zu erleben meint? Ist Schönheit tatsächlich nur die ins Äußere projizierte Qualität einer Erfahrung – egal, ob nun des Hin-und-weg-Seins oder des interesselosen Wohlgefallens? Oder gibt es darüber hinaus doch etwas am Schönen, von dem wir annehmen dürfen, es sei der Grund dafür, dass es uns hinreißt?
Es gibt etwas am Schönen, dem es seine hinreißende Kraft verdankt: eben die in ihm wirksame Sehnsucht nach Vollkommenheit und Göttlichkeit, die seit den Tagen der griechischen Antike gar nicht anders zum Ausdruck gebracht werden konnte als allein durch Harmonie. Für die alten Griechen war das eine klare Sache: Wer vom Eros beseelt ist, der will Harmonie. Wer die Liebe im Herzen trägt, der will in sich ausbalancierte, stimmige, harmonische Verhältnisse – sowohl für sich selbst als auch inden Dingen, die er schafft; und in seinen Kunstwerken ganz besonders. Egal, ob du einen griechischen Tempel, ein Gedicht oder den Speerträger des Polykles nimmst, diese alte – durch und durch erotische – Kultur war besessen vom Drang nach Harmonie. Diese Menschen waren davon überzeugt, dass sie die hinreißende Schönheit des Vollkommenen und Göttlichen, nach der wir uns alle so sehr sehen, nicht anders zur Darstellung bringen können als durch Harmonie. Denn wo Harmonie ist, da ist alles so komponiert und geordnet, dass es stimmig ist: dass es sich so zum anderen fügt, dass es passt. Wo das der Fall ist, strahlt ein Werk – ob nun eine Musik, eine Skulptur, ein Gedicht, ein Film oder ein Gemälde – dieses große Ja aus. Alles an ihm scheint mit allem einverstanden zu sein, jeder einzelne Aspekt scheint es mit dem anderen gut zu meinen – Sinnbild eines Lebens in Liebe, Einklang und Vollendung.
Natürlich galt das in der alten Welt vor allem für die Götter. Die olympischen Götter und Göttinnen der Griechen waren für sich die höchsten Verdichtungen harmonischen Lebens. Alles stand in einer solchen Gottheit in Einklang, auch das Widersprüchlichste: Apollon, der Gott der Heilkunst, war zugleich ein fürchterlicher Todesgott; Hermes, der Gott des Handels, war zugleich der Gott der Diebe. Oder, wie der Philosoph Heraklit es formulierte: „Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger.“
Das Aufregende daran ist für mich, dass es genau diese innere Widersprüchlichkeit ist, dieses Miteinander der Gegensätze, das die vollkommene Schönheit ausmacht. Du kannst das an einem ganz trivialen Beispiel erkennen: Wenn du zwei Fotos
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