Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
vergleichst, wirst du immer dasjenige schöner finden, bei dem die Licht- und Schatten-Anteile klarer und gleichmäßiger verteilt sind. Schönheit – eine, die uns fesselt – entsteht immer da, wo Vieles, Unterschiedliches, Polares in ein stimmiges Gleichgewicht gebracht wird: Hell und Dunkel, Göttlichkeit und Menschlichkeit, Mann und Frau. Sie entsteht, wo Verbergen und Enthüllen die Waage halten. Sie lebt von der spannungsvollen und dabei doch stimmigen Harmonie des Sichtbaren und des Unsichtbaren.
Harmonie, um es noch mal anders zu sagen, ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen, nicht die Nullspannung, die in der Thermodynamik „Wärmetod“ heißt. Harmonie ist die höchst spannungsgeladene Einheit von Vielheit oder das stimmig verpackte Polare: das Miteinander des sich Widersprechenden, die
coincidentia oppositorum
des Nikolaus von Cues. Ein Gedanke, der letztlich auch auf Heraklit zurückgeht, der das Geheimnis der Harmonie auf den Begriff brachte, als er sagte: „Wenn sie sich anziehen, stoßen sie sich ab.“ Harmonie ist höchste Spannung, die das Auseinanderstrebende zu einem stimmigen Ganzen integriert. Und genau das ist es, was einen erotischen Menschen, so hinreißt, dass er nicht anders kann als sagen: Boh, ist das schön!
Bei den schönen Nackten im Barockpark handelt es sich so gesehen um harmonische Gestalten – Gestalten, die Göttliches zeigen und zugleich hinter der menschlichen Nacktheit verbergen; Gestalten, die nackte Menschen darstellen und hinter ihnen den Zauber des Göttlichen verstecken. So oder so, wo immer uns Harmonie begegnet, ist sie ein Ausdruck dafür, wie das Leben idealerweise sein kann: integral, ganz menschlich und doch durchdrungen vom Göttlichen; in sich ausbalanciert, unterschiedliche Aspekte des Lebens zur Ganzheit einer blühenden Seele integriert. Die nackten Götter erinnern mich daran, was es heißt, ein reifes, erblühtes Leben zu führen – eine Seele zu sein, in der alles in stimmiger Harmonie angeordnet ist, so dass sie zu sich und der Welt Ja sagen kann, so dass sie verliebt sein kann ins Leben.
Nun fragst du vielleicht, was es bedeuten soll, dass du als Seele ausbalanciert und in Harmonie, d.h. im erotischen Sinne schön sein kannst. – Du bist ein komplexes Wesen. Es gibt in deiner Seele eine ganze Menge widerstrebender Impulse, Wünsche, Prägungen, die vordergründig nicht zueinander passen. Wie jeder andere Mensch auch versammelst du in deiner Seele eine Mannigfaltigkeit von inneren Stimmen; und die ganze Kunst des Lebens besteht nun darin, dieses vielfältige Konzert so ineinander klingen zu lassen, dass es als Ganzes harmoniert, als dieses Ganze, das du bist. Jede deiner inneren Stimmen soll darin vorkommen, jeder Aspektdeines Lebens darin erklingen. Denn wie sonst könntest du Ja zu dir sagen, wie sonst könntest du dich verlieben – in dich und die Welt?
Die ganze griechische Kultur stand unter dem Spruch, der am Apollon-Tempel zu Delphi angebracht war:
Erkenne dich selbst
. Die frühen griechischen Weisen haben Ernst damit gemacht und fragten sich, wer wir Menschen eigentlich sind. Sie fanden heraus, dass wir Leben sind, das darauf angelegt ist, mit sich im Reinen, in Harmonie und Stimmigkeit zu sein. In dieser Zeit fand im alten Griechenland nicht zufällig der Wechsel von der archaischen zur klassischen Kunst statt. In dieser Zeit begann der Kult der Harmonie, denn so sollte den Menschen der Idealzustand (griechisch:
areté
) vor Augen geführt werden, auf den das Leben immer schon angelegt ist. So sollte die erotische Leidenschaft in ihnen angestachelt werden, es den Götterbildern gleichzutun und in sich die schöne Harmonie eines blühenden Lebens zu verwirklichen. So wurde dem Eros im Herzen der Menschen ständig neue Nahrung gegeben, auf dass es ihnen gelinge, das Göttliche im Menschen zu sehen, zu feiern und zu verwirklichen.
„Aber wird Schönheit dann nicht zur bloßen Gefälligkeit?“, fragst du, „wird sie dann nicht gerade doch zu etwas Machbarem, denn Harmonie und Balance des Körpers lassen sich durchaus mit Hilfe von Schönheitschirurgen und Kunstgriffen bewerkstelligen.“ – Wohl wahr, und hier bleibt mir nichts anderes, als darauf hinzuweisen, dass der erotische Sinn im Menschen eben nichts ist, was immer schon da ist und nur eingeschaltet zu werden braucht, sondern dass er gebildet, geschult, geschärft sein will: so dass der verliebte Blick eben nicht nur auf die schönen, harmonischen Körper und Erscheinungen
Weitere Kostenlose Bücher