Hingabe
Paris von Ella, die keine Familie und kein Geld hat? Ich habe Seite um Seite durchgescrollt, auf denen es um den zweiunddreißigjährigen Milliardär geht, der ein Vermögen geerbt und es zu einem noch größeren Vermögen gemacht hat, und ich muss eine Antwort finden. Ich habe keine Ahnung, warum Chris meint, dieser Mann bedeute Ärger, aber ich bezweifle nicht, dass er weiß, wovon er spricht.
Es ergibt keinen Sinn, dass Neuville nach Ella suchen sollte, also muss es mit ihrem Verlobten zusammenhängen. Ich habe David nie gemocht, ihm nie vertraut.
Ich stelle meinen Computer auf den Boden und starre auf die Schlafzimmertür, sende Chris die stumme Botschaft, dass er erscheinen soll. Es funktioniert nicht. Ich muss die Probleme in Angriff nehmen, statt zuzulassen, dass sie mich angreifen.
Ich stehe auf. Ich werde Ella finden, und es ist ein guter Anfang, mit diesem Neuville zu reden. Aber ich tue es nicht ohne Chris. Er hatte genug Zeit für sich allein, und ich hatte sie auch.
Jetzt ist unsere Zeit.
Als ich oben an der Treppe ankomme, steht die Tür zu seinem Atelier offen, und ich hoffe, es ist eine Einladung. Der harte düstere Song, der von den Wänden widerhallt, klingt allerdings nicht ermutigend:
The Bottom
von Staind. Die Worte knirschen durch mich hindurch, unausweichlich, intensiv. Emotional.
Du erstickst, du kannst nicht darauf warten, dass es einfach vorbeigeht.
Der Song gibt Chris’ Gefühlen eine Stimme. Er ist der Zugang zu seinem Leid. Und ich leide von Neuem mit ihm. Wenn ich seinen Schmerz schon nicht stillen kann, kann ich doch zumindest mit ihm zusammen sein.
Ich trete ein und sehe Chris auf einem Hocker direkt vor dem Bogenfenster; er beugt sich zu der Leinwand vor, die auf einer Staffelei steht. Seine Hand ist zwar bandagiert, aber anscheinend funktionstüchtig. Mühelos bewegt er den Pinsel. Er hat seine nasse Jeans ausgezogen. Jetzt trägt er eine dunkelblaue, aber er hat auf ein Hemd und Schuhe verzichtet, und sein Haar ist weich, als sei es frisch gewaschen. Er hat in einem anderen Badezimmer geduscht und ist mir aus dem Weg gegangen, während ich mir gewünscht habe, er würde erscheinen.
Der Songtext erinnert mich daran, dass jedes Meisterwerk, das er je geschaffen hat, zu Musik gemalt wurde, die zu seiner Stimmung passte, und dieser Song hat eine klare Botschaft. Er erstickt an etwas. Er will, dass es aufhört. Er meint nicht uns, rufe ich mir ins Gedächtnis. Er braucht mich, so wie ich ihn brauche.
Plötzlich muss ich wissen, wie dieser Song in Verbindung steht mit dem, was er seit zwei Stunden auf der Leinwand erschafft. Ich lasse die Tür los und gehe auf ihn zu. Chris dreht sich nicht um, und ich glaube nicht, dass er weiß, dass ich hier bin. Er ist völlig in seine Arbeit versunken, ganz mit dem beschäftigt, was er schafft. Ich bleibe stehen, sobald ich nahe genug bin, um die Leinwand zu sehen, aber nicht so nahe, dass ich seine Konzentration störe.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Er malt mich, mit seiner Lederjacke um die Schultern, das regennasse Haar klebt mir im Gesicht. Ich bin blass, und meine Augen reflektieren solche Qual, dass ich kaum atmen kann. Er hat den Moment eingefangen, in dem ich gestanden habe, dass ich meine größte Furcht durchlebe, die nämlich, dass er mich ausschließen könnte – und er hat es mit solcher Brillanz getan, dass ich den Moment noch einmal durchlebe und mir das Herz blutet.
Nach meinem Geständnis hat er nichts gesagt, keine Reaktion gezeigt, aber er hat eine empfunden. Er empfindet sie immer noch.
Während dieser beiden letzten Stunden mag Chris abwesend gewesen sein, aber er hat mich nicht ausgeschlossen. Mir geht das Herz auf, und ich brenne darauf, ihn zu berühren. Aber das wäre jetzt nicht das Richtige, um ihn zu erreichen.
Ich gehe an ihm vorbei aufs Fenster zu und hoffe, dass ich Chris durchschauen und verstehen werde, was er in diesem Moment braucht.
Ich kann die Sekunde benennen, in der er in diese Welt und zu mir zurückkehrt. Meine Haut kribbelt, und unter seinem Blick wird mir heiß. Ich trete direkt ans Fenster, mehrere Schritte von der Stelle entfernt, wo er gearbeitet hat. Als ich mich umdrehe, bin ich überrascht, ihn jetzt auf dieser Seite der Leinwand stehen zu sehen. Seine Hände hängen herab, das Kinn ist angespannt, sein Blick ist so gehetzt wie meiner auf seiner Leinwand.
Ich stehe da und warte. Ich bin mir nicht sicher, worauf, aber ich warte. Ich spreche nicht, und er tut es auch nicht. Wir
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