Hinreißend untot
trat. Für einen Sekundenbruchteil war ich davon überzeugt gewesen, dass es sich um Tomas handelte. Er hatte die gleiche schlanke, athletische Statur, das gleiche hüftlange schwarze Haar und die gleiche honigbraune Haut. Erst als hinter ihm ein kleines Mädchen aufs Eis stolperte und er sich umdrehte, um es hochzuheben, sah ich sein Gesicht. Natürlich war es nicht Tomas. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war er bestrebt gewesen, den Kopf auf einem gebrochenen Genick zu halten. »Was ist los,
Querida?
Man könnte meinen, du hättest einen Geist gesehen.« Ich hätte ihn daraufhinweisen können, dass der Anblick von Tomas weitaus traumatischer gewesen wäre, verzichtete aber darauf. Mein alter Mitbewohner war nicht unbedingt mein Lieblingsthema. Er hatte Rasputin die Schlüssel der Zauber gegeben, die MAGIE schützten, und als Gegenleistung zwei Dinge erhalten: Hilfe dabei, seinen Herrn zu töten, und Kontrolle über mich. Das eine gehörte für ihn zum anderen, denn er wollte seinen gegenwärtigen Herrn loswerden, um die Möglichkeit zu haben, seinen alten zu erledigen. Der betreffende Vampir hieß Alejandro und war das Oberhaupt des Lateinamerikanischen Senats, weshalb Tomas Hilfe brauchte. Vielleicht würde ich irgendwann jemandem begegnen, der nicht in erster Linie eine Waffe in mir sah. Oder vielleicht auch nicht, bei meinem Pech.
Die Dinge waren nicht ganz so gelaufen, wie Tomas sich das erhofft hatte. Ich nahm an, dass er den Kampf überlebt hatte, da ein Meister der ersten Stufe nicht leicht zu töten war, aber ich wusste nicht, ob es ihm gelungen war, sich dem Zorn von MAGIE zu entziehen. Wie dem auch sei, wenn er sich den Weg freigekämpft hatte, lief er gerade um sein Leben und stand nicht in Schlittschuhen in einer Eishalle, wo ihn alle sehen konnten. »Schon gut«, sagte ich.
Chavez stützte sich neben mir aufs Geländer. »Ein attraktiver Mann.
Muypredido.
Ein echter Antörner, wie ihr Amerikaner sagt.«
Ich warf ihm einen Blick zu. In seinem Gesicht zeigte sich Anerkennung, fast etwas Lüsternes, als er den Eisläufer beobachtete. »Bist du nicht ein Inkubus?«
Bisher hatte ich geglaubt, dass sie weibliche Partner bevorzugten. Jedenfalls hatte ich in Casanovas Laden keine männlichen Gäste gesehen. Chavez zuckte lässig mit den Schultern. »Inkubus, Sukkubus, es läuft aufs Gleiche hinaus.«
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Unsere Art hat kein angeborenes Geschlecht,
Querida.
Derzeit wohne ich in einem männlichen Körper, aber gelegentlich habe ich auch Frauen besessen. Für mich fällt der Unterschied kaum ins Gewicht.« Seine Augen glänzten, als er sich herabbeugte und mir mit einem warmen Finger über die Wange strich. Es war eine ganz sachte Berührung, aber sie ließ mich erschauern. »Lust ist Lust.« Jähes Verlangen stieg in mir auf. Es war nicht so überwältigend wie bei Casanovas Berührung, und es weckte auch nicht die Aufmerksamkeit des
Geis,
wie es bei Casanova kurz der Fall gewesen war. Der Kontakt und die Worte liefen auf eine schlichte Einladung hinaus und teilten mir mit: Er hätte sich über jeden Annäherungsversuch von mir gefreut und ihn mit Lust beantwortet. Die ganze Sache machte mich wütend, aber nicht auf ihn. Sie wies in aller Deutlichkeit daraufhin, dass ich weniger Kontrolle über mein Liebesleben hatte als eine Nonne. Selbst wenn ich den Kopf verloren und beschlossen hätte, ein Leben in Sklaverei als Pythia für eine kurze Affäre aufzugeben – ich konnte nicht. Wirklich nicht. Oder ich hätte riskiert, den Verstand zu verlieren. Dafür hatte Mircea gesorgt.
»Habe ich dich schockiert?« Chavez wirkte eher amüsiert als zerknirscht. Ich hätte ihm sagen können, dass mich nach dem Aufwachsen bei Tony kaum mehr etwas schockierte, begnügte mich aber mit einem Schulterzucken. »Es wäre nicht das erste Mal«, fügte er hinzu. »Mein derzeitiger Geliebter ist sowohl Mann als auch Vampir, und deshalb habe ich mir … ein dickes Fell zugelegt. Ist das der richtige Ausdruck?«
»Ich dachte immer, Vampire und Inkuben hätten nicht viel miteinander zu tun.«
»Haben sie auch nicht. Ich gelte als ziemlich pervers«, erwiderte Chavez munter.
Ich lächelte unwillkürlich. »Können wir jetzt gehen?« Chavez wollte die Reisetasche nehmen, aber ich hielt sie mit dem Vorwand fest, dass er ja schon die Tüten mit dem Essen trug. Wenn ich damit seine Macho-Gefühle verletzte, ließ er es sich nicht anmerken. Als wir wieder im Wagen saßen, wickelte ich das
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