Hinter blinden Fenstern
Augenblick, als sie ihm auf offener Straße zwei schallende Ohrfeigen verpaßte und ihm drohte, die Polizei zu holen, wenn er noch ein einziges Mal in ihre Nähe käme. Und weil ihre eigenen Worte sie zusätzlich aufgewühlt hatten, ohrfeigte sie ihn ein drittes Mal. Daraufhin setzte sie sich in ihren Mazda, ließ den Motor aufheulen, gab Gas und fuhr direkt auf ihn zu. Mit einem Schrei sprang er zur Seite. Sie reckte die Faust aus dem offenen Cabrio, bog mit quietschenden Reifen in die Weihenstephanerstraße ein und hörte und sah nie wieder etwas von ihm. Bis vor ungefähr eineinhalb Jahren.
Seither bildete sie sich ein, von ihm verfolgt zu werden, von morgens bis abends, ohne daß sie auch nur seinen Schatten zu sehen bekam. Erst, als sie eines Nachts von ihrem dunklen Zimmer aus die Gestalt mit dem Fernglas hinter dem Fenster im Haus gegenüber bemerkte, fand sie ihre Ruhe wieder und hatte keinen Zweifel mehr an der Person ihres Verfolgers und an dessen Absichten.
Sie war überzeugt, seine Besessenheit habe ihn so weit getrieben, eine Wohnung in der Riesenfeldstraße 61 zu mieten, mit Blick auf den Innenhof, der auf der gegenüberliegenden Seite vom Wohnblock Anhalter Straße 12 und 14 begrenzt wurde.
Bertold Gregorian, den alle Bert nennen durften, müßte inzwischen, so schätzte Clarissa, fast siebzig sein, ein Mann, der schon damals, in den ersten Wochen des Club Dinah viel älter als sechzig wirkte und wie jemand, von dem man sich nicht vorstellen konnte, wie er als junger Mann oder als Jugendlicher gewesen sein mochte.
Siebzig, dachte sie an diesem Sonntagnachmittag und blickte vom Sofa aus hinüber zu den rostbraunen Balkonen. Siebzig, und auf dem Weg in eine unheilbare Verrücktheit.
Vor ihm gefürchtet hatte sie sich in den eineinhalb Jahren nie, trotz des manchmal mulmigen Gefühls und ihres Ärgers beim Gedanken an den fremden Schatten irgendwo. Vielleicht, weil sie ihn aus Situationen kannte, in denen er nicht nur körperlich nackt vor ihr gelegen oder gekniet hatte und sie sich sicher gewesen war, daß er nicht zur Abteilung der Unberechenbaren gehörte.
Vielleicht hatte sie keine Furcht vor Bert Gregorian, weil sie ihn nicht ernst genug nahm und, wenn sie ehrlich war, nie ernst genug genommen hatte, höchstens für Momente eines schönen Blicks oder einer sachten wortlosen und unaufdringlichen Berührung.
Natürlich hätte sie ihn längst zur Rede stellen müssen.
Doch weil sie sich nicht bedroht fühlte und ihn nach einer Weile lächerlich und den Aufwand, den er betrieb, peinlich und seines Alters unwürdig fand, ließ sie ihn gewähren. Sie blieb wachsam, aber gelassen und plante die Konfrontation für einen Tag, an dem er am wenigsten damit rechnen würde.
Dann wieder hatte sie keine Zeit, keine Lust, keinen Elan, und sie verdrängte alle Gedanken an ihren Verfolger.
Dann passierte die Sache mit Mora.
In den Monaten nach dem Prozeß schien ihr, als halte ihr Verfolger Abstand und stehe auch nicht mehr mit dem Fernglas am Fenster. Vermutlich täuschte sie sich. Denn eines Nachts – und dann immer wieder – fuhr ein grauer Opel Vectra von Berg am Laim bis nach Milbertshofen hinter ihr her. Es war sein Wagen, und wenn sie im Fenster auf der anderen Seite des Innenhofs ein flüchtiges Blinken sah, wußte sie, daß er da stand und seinen Phantasien nachhing.
In all der Zeit hatte Hans, ihr Freund, nichts mitbekommen, und sie hatte ihm nichts erzählt. Und so sollte es bleiben.
Und heute war der Tag, den alten Mann zur Rede zu stellen. Unmißverständlich und mit dem einzigen Ziel, ihn für alle Zeit aus ihrem Leben zu verbannen.
Und wenn er sich weigerte?
Bei dieser Frage lächelte sie und sagte laut: »Er wird sich nicht weigern.«
Clarissa Weberknecht plante bereits die Feier zum zehnjährigen Bestehen ihres Clubs im nächsten Jahr. Und niemand, kein Mann, kein Mensch, würde dieses Jubiläum auf irgendeine Weise stören. Und falls doch, dann würde er die Störung, so gering sie auch sein mochte, mit dem Leben bezahlen. Das hatte Clarissa ihrer Freundin Dinah an deren erstem Todestag geschworen.
*
Sie hatte einen merkwürdigen Verdacht.
»Du bist nicht bei der Sache«, sagte sie und richtete sich neben ihm auf und lehnte sich an das Bettgestell.
»Natürlich bin ich bei der Sache«, sagte er.
»Ich weiß nicht.«
»Meinst du, ich habe den Orgasmus nur vorgetäuscht?«
»Na ja.«
» Du bist nicht bei der Sache«, sagte er und sah zu ihr hinauf. »Ich weiß, woran
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