Hinter blinden Fenstern
Will der was von dir?«
Mit vier Fingern malte Stefanie Anführungszeichen in die Nachtluft: »Der Freund deines Vaters.«
Weil sie in Gedanken mit Niko beschäftigt war, bemerkte Linda den ironischen Unterton nicht. »Er schreibt was über die Wünsche von Jugendlichen fürs neue Jahr, deswegen hat er mich interviewt«, sagte sie gleichmütig. »Verstehst du das?«
»Und was wünschst du dir?« fragte Stefanie.
Linda schürzte die Lippen und legte den Kopf in den Nacken. »Daß du ein Jahr lang die Klappe hältst, das ist mein sehnlichster Wunsch.«
Und ohne einen Abschiedsgruß ließ sie die beiden Mädchen stehen, warf einen letzten Blick zum Pulk der Jungen, in dem Niko mit dem Rücken zu ihr stand, und folgte dem geteerten Weg den Hügel hinunter.
Sie wollte weg. Weit weg von den anderen, vor allem von Stefanie und Ellen. Wobei Ellen eigentlich ganz in Ordnung war, während Stefanie allmählich zu einer wandelnden Krätze wurde, ekelhaft und überflüssig.
Im Park schlurfte Linda über die Kieswege, stapfte mit den Stiefeln auf und hörte nicht hin, wenn aus der Dunkelheit Jungenstimmen ertönten und Pfiffe gellten und Betrunkene aus dem Hinterhalt Zeug riefen.
Sie wollte weit weg, am besten das Jahr überspringen und gleich mit dem nächsten beginnen, oder mit dem übernächsten. Und dann schon zwanzig sein. Das wäre das einzig Sinnvolle auf der Welt.
Von Wut getrieben, verließ sie den Park, ging quer über die Karl-Theodor-Straße und wußte nicht, wo weiter. Auf keinen Fall nach Hause, dazu war es viel zu früh, noch nicht mal vier Uhr morgens. Außerdem war Neujahr. Und zu Hause ging das alte Jahr einfach weiter, wie jedes Jahr, jedes Jahr dasselbe Jahr.
In der Hiltenspergerstraße kreiste sie vom linken Bürgersteig zum rechten, hin und her. Kein Auto fuhr. Sie hatte freie Bahn.
Sie hatte den Mantel aufgeknöpft und breitete ihn aus, die Hände in den Taschen, kurvte um die geparkten Fahrzeuge und hatte nicht die kleinste Vorstellung von dem, was sie erwartete, erhoffte, nicht einmal von dem, was sie in der Tiefe ihrer Wut verfluchte.
Wenn sie ihren Eltern gegenübersaß, fragte sie sich oft, wer diese Leute seien und was sie von ihr wollten. Sie waren Fremde für sie, flüchtige Bekannte, mit denen sie aus unerfindlichen Gründen ihr Leben verbringen mußte.
Ihre Mutter arbeitete seit hundert Jahren als Helferin in einer Arztpraxis, ihr Vater knipste seit hundert Jahren Leute und Häuser und war wahnsinnig stolz darauf. Sie wohnten in einer Altbauwohnung in der Elisabethstraße und ernährten sich gesund. Und im Dezember besuchten sie seit hundert Jahren den Christkindlmarkt an der Münchner Freiheit, weil da alle Schwabinger hingingen. Und im Sommer fuhren sie mit den Fahrrädern in den Englischen Garten und trafen am Chinesischen Turm tausend andere Schwabinger. Und alle wohnten in Altbauwohnungen und hatten Kinder, die aufs Gymnasium gingen und später bestimmt nicht von Hartz IV leben mußten. So ein schönes Leben, dachte Linda und breitete den Ledermantel weit aus und sog die kalte Luft ein und schlurfte mit ausladenden Schritten über den Asphalt.
An der Kreuzung zur Clemensstraße blieb sie abrupt stehen. Sie drehte den Kopf nach rechts und links, als achte sie auf den Verkehr, legte wie vor ihren Freundinnen den Kopf in den Nacken und sah einen Palast aus Sternen.
Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Sie blinzelte staunend und vergaß für Augenblicke ihr inneres Grauen.
Einige Sterne bildeten Kreise, andere hingen wie an einem Schweif aneinander, manche blinkten aus einer großen, ewigen Verlorenheit.
So ein Stern, dachte Linda, der bin ich, und ich bin schon lange erloschen und alle bilden sich nur ein, mich zu sehen. Aber es gibt mich nicht mehr, seit Jahrhunderten. Ich bin bloß eine Erscheinung, ein Phantom, ein Trick.
Sie senkte den Kopf, rieb sich über die Augen und stapfte mit den Füßen auf. Sie schniefte. Sie kriegte die Traurigkeit nicht aus sich raus.
Erst nach mindestens zehn Minuten kehrte ihre alte Stimmung zurück, und sie fegte mit den Stiefeln Reste von Feuerwerkskörpern und Böllern über die Straße und trat gegen eine senkrechte Dachrinne, und das Scheppern hallte in einer Einfahrt wider.
»Wir behandeln uns respektvoll und zuvorkommend!« rief sie in den Innenhof. »So stehts in unserer Schulordnung. Wir sind zuverlässige Mädchen und respektieren einander. Wir sind sauber und denken positiv.«
Ihre Stimme wurde immer lauter.
»Wir sind total
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