Hinter blinden Fenstern
die Nummer zu wählen. Er hatte keine Erklärung für seine Zweifel, seine Unsicherheit.
Klemmst du jetzt, wenn es endlich ernst wird, den Schwanz ein? dachte Rupert Soltersbusch vor dem Spiegel und tippte sich mit dem Mittelfinger an die Stirn. Auf sehr eigentümliche Weise vermittelte sein Gesicht, fand er, einen lahmen Eindruck, es fehlte der Ausdruck von unbedingtem Willen, der in den vergangenen Tagen sogar seine Frau ein wenig verblüfft hatte.
Statt dessen schaute er jetzt irgendwie verdruckst drein, fand er, innerlich abgemagert.
Dem Sechsundfünfzigjährigen paßte sein Geschau nicht ins Konzept. Er wandte sich ab, ging ins Wohnzimmer und beugte sich über den Tisch, auf dem dreiundvierzig Fotos ausgebreitet lagen, sortiert nach dem Datum ihrer Entstehung.
»Du bist unser Kandidat«, sagte er.
Er betrachtete das Telefon in seiner Hand. Dann öffnete er die Balkontür und trat hinaus neben den mit Unterhosen, Unterhemden und Büstenhaltern vollgehängten Wäscheständer.
Wie zufällig beugte er sich über die Brüstung und blickte nach rechts zum Nachbarbalkon, auf dem nichts außer einem weißen Plastikklappstuhl stand.
Wie jemand, der nur schnell Luft schnappen wollte, atmete er demonstrativ tief ein und aus, schaute in die andere Richtung und stellte sich an die Schmalseite der Brüstung.
Seit einer Woche waren vor dem Fenster der Nachbarswohnung im ersten Stock die Vorhänge vorgezogen, nichts regte sich, kein Hinweis auf den Mieter. Tot war er nicht, das hatte Soltersbusch herausgefunden, der Mann holte die Post aus dem Kasten, machte Besorgungen. Aber er redete mit niemandem, schlich mit gesenktem Kopf durch die Straßen und warf immer wieder einen Blick über die Schulter, als fürchte er, verfolgt zu werden.
Soltersbusch fielen die Verhaltensweisen seines Nachbarn aus der Anhalter Straße 16 schon eine ganze Weile auf. Bei den AMM-Gruppensitzungen sprachen sie in jüngster Zeit ausschließlich über ihn und darüber, wann die Indizien für eine offizielle Meldung ausreichten. Zu Testzwecken hatte Soltersbusch sogar einen Nachbarn von gegenüber auf den Verdächtigen angesprochen, und der Nachbar, ein gewisser Fallnik, meinte, er selbst habe sich schon über die Verdruckstheit, ja Verschlagenheit des Mieters gewundert.
Und seit der Fall der verschwundenen Schülerin Linda Gabriel die Schlagzeilen beherrschte, richtete Soltersbusch sein gesamtes Augenmerk auf den Mann in Nummer 16. Zwei AMM-Mitstreiter hatten ihn bereits ertappt, wie er auf der Straße Mädchen ansprach und offensichtlich zudringlich wurde, jedenfalls war es zu heftigen Wortwechseln gekommen, an deren Ende der Mann wie ein geprügelter Hund davonlief.
Von dem Tag an, als in den Zeitungen die ersten Berichte über das Mädchen erschienen waren, tauchte der Mann nicht mehr im Viertel um die Anhalter und Riesenfeldstraße auf. Er verbarrikadierte sich in seiner Wohnung. Nachts sah man lediglich eine Funzel im hinteren Teil brennen, tagsüber blieb jedes Fenster geschlossen.
Die Fotos auf Soltersbuschs Wohnzimmertisch zeigten den Mann – er hieß Madaira – in der Zeit vor dem neunten Januar, dem Tag, an dem laut Polizei die Schülerin zum letztenmal gesehen worden war. Die Fotos dokumentierten die Gewohnheiten eines Mannes, der etwas zu verbergen hatte und den eine Aura von Unberechenbarkeit umgab.
»Du hast keine Beweise«, pflegte Anita Soltersbusch zu sagen. Darauf ging ihr Mann nicht ein.
Sie war nicht Mitglied beim AMM und würde es nie werden. Anders als sie teilten die fünf Männer in der Gruppe die Überzeugung ihres Vorsitzenden, Madaira müsse zum Kreis der möglichen Entführer gezählt werden, und der AMM erhalte zum erstenmal die Chance, zu agieren und an die Öffentlichkeit zu treten.
Wieso zögerte er dann?
Sie hatten alles besprochen, und die Abstimmung gestern war das letzte Signal gewesen. Der Mann, dreiundfünfzig Jahre alt, Schauspieler von Beruf und zur Zeit arbeitslos, weil das Fernsehen, wo er jahrelang in einer Serie mitgespielt hatte, ihn nicht mehr haben wollte, ging Tage vor der mutmaßlichen Entführung von Linda Gabriel jedem vernünftigen Gespräch aus dem Weg. Er wechselte die Straßenseite, wenn man ihm entgegenkam, und verstärkte bei seinen Nachbarn – zumindest bei den aufmerksamen unter ihnen – den Eindruck eines Menschen, der etwas ausheckte.
»Schau dich doch um«, sagte Soltersbusch, wenn er nichts Besseres zu tun hatte, zu seiner Frau. »Die Leute rennen aneinander vorbei. Wenn
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