Hinter blinden Fenstern
Augen.
Minutenlang vergaß sie, daß sie noch an den Füßen ans Bettgestell gefesselt war und die Schnüre ihre Knöchel aufschürften.
Fallnik bohrte mit dem kleinen Finger in seinem linken Ohr. Er sah zu ihr hinüber.
Linda.
In seinem Bett, gefesselt. Nicht die erste. Keine vorher war so jung. Die meisten waren viel älter, älter auch als er. Die meisten wollten freiwillig gequält werden. Nicht alle. Die meisten. Die, die sich wehrten, hatten keine Chance, und hinterher waren sie nicht einmal unzufrieden. Zwei Frauen hatten gedroht, ihn anzuzeigen. Er war dann zuvorkommend und nachgiebig gewesen. Eine blieb stur. Da argumentierte er, als wolle er einem Kunden bei Weinher unter allen Umständen ein Armani-Jackett für siebentausend Euro verkaufen. Das hatte er schon geschafft, obwohl er gar kein Armani- oder Boss- oder Dergleichen-Verkäufer war, bloß einer für die billigen Sachen von der Stange. Die Frau nahm Vernunft an. Der Kunde hatte das Sakko gekauft, doch Fallnik wußte, zu Hause würde der Mann an sein Konto denken und weinen. Genau wie die Frau. Sie würde im Spiegel ihren Rücken betrachten und weinen. Doch der Kunde tauschte das Sakko nicht um und die Frau ging nicht zur Polizei.
Linda.
Ein Entführungsopfer. Gesprächsstoff im Stüberl.
Er war unverdächtig. Er würde weiter viermal die Woche bei Weinher stehen. Und ab und zu am Wochenende seine Eltern in Fürstenfeldbruck besuchen.
»Ich verrat dir was«, sagte er, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
»Ja …« Sie hustete und sog mit aufgerissenem Mund Luft ein. »Sol… der Herr Sol…«
»Wer? Der Soltersbusch? Der jetzt nicht. Ich bin nicht vorbestraft, darum gehts. Absolut unverdächtig. Willst du was trinken?« Die Frage rutschte ihm so heraus.
Wenn sie ja sagte, würde er ihr nichts bringen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob sie den Kopf. »Bitte ein Glas Wasser, Arthur … mein Hals verbrennt … verbrennt gleich …«
Eine Minute später hielt er ihr ein Glas bis zum Rand gefüllt mit Wasser hin.
Ihre Hand zitterte. Sie nahm das Glas in beide Hände und senkte mühevoll den Kopf.
Als sie ausgetrunken hatte, drückte sie das kühle Glas an ihre Wange.
»Danke … Arthur …«
Er war es nicht gewohnt, daß jemand ständig seinen Namen sagte. Es störte und erregte ihn gleichzeitig.
»Wer …« Linda hielt das Glas an die andere Wange. »Wer ist Soltersbusch? Dein Nachbar?«
»Von drüben.« Unschlüssig blickte er zum Fernseher, dann ließ er sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen.
Noch einmal sah er zum Tisch und überlegte, ob er die Pistole holen sollte.
Dann schaute er hastig auf seine Armbanduhr. Zwei Uhr fünfzig. Um vierzehn Uhr mußte er in der Arbeit sein. Er würde nicht hingehen. Morgen nicht und auch nicht am Donnerstag. Und am Freitag nur dann, wenn Linda parierte.
Parierte.
Das Wort erschreckte ihn.
»Der wohnt drüben«, sagte er. »Gib das Glas her.«
Sie reichte es ihm, und er stellte es auf den Boden und zog die Hand zurück, wie elektrisiert. »Anhalter wohnt der. Ist bekannt im Karree. Aber was die wenigsten wissen: Er hat eine Geheimloge gegründet. Hab ich dir doch schon erzählt. Heißt AMM. Rate, was das bedeutet. AMM. Hm?«
Sie sah ihn aus wässrigen blauen Augen an. Ihr Blick brachte ihn aus der Fassung. »Leg dich hin. Hinlegen.«
Sehr langsam fiel sie nach hinten. Sie drückte die Augen fest zu und stöhnte laut, als sie endlich auf dem Rücken lag.
»Du sollst die Klappe halten!«
Sie schmatzte und holte tief Luft. »Verzeihung … Arthur …«
Er wollte ihr verbieten, noch einmal seinen Namen zu nennen.
Dann hatte er keine Lust mehr dazu. »Achtsamer Mitmensch, das heißt AMM. Schon mal gehört? Soltersbusch hat mich gefragt, ob ich einsteige. Brauch Bedenkzeit, hab ich ihm geantwortet. Man muß regelmäßig zu geheimen Treffen gehen und erreichbar sein für alle Fälle. Ich bin nicht gern erreichbar. Ich gehör mehr zu den Alleinigen. So wie du.«
»Was … was machen die … achtsamen Mitmenschen?«
Linda versuchte, den Schmerzwellen in ihrem Körper nicht entgegenzuatmen, sondern in sie hinein, wie ihre Freundin Ellen ihr immer riet.
»Die sind achtsam«, raunte Fallnik und grinste. »Die passen auf, was die anderen tun. Halten die Augen auf. Kümmern sich um ihre Mitbürger. Ehrenwert. Die wollen sich hinterher nicht sagen lassen, daß sie nichts mitgekriegt haben, wenn nebenan eine Leiche in der Wohnung liegt, vier Monate lang, und jeder hat anscheinend Schnupfen,
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