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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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konstruktiv, wenn mal was scheiße läuft, und wir sind supertolerant gegenüber Arschlöchern und wir engagieren uns total sozial und helfen alten Omas über die Straße. Wir sind mündige Bürger und sprechen Englisch und Französisch und Lateinisch und Spanisch. Wir machen viel Sport und achten auf unsere Gesundheit. Wir trinken nicht und wir kiffen nicht. Hört ihr? Wir spielen Theater und werden alle mal in Altbauwohnungen wohnen und Spitzenberufe haben. Danke, Leute!«
    Sie formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund.
    »Danke. Frohes neues Jahr allerseits!«
    Vor der evangelischen Kirche stieg sie auf eine Bank, hockte sich auf die Rückenlehne und trommelte mit den Stiefeln.
    Etwas geriet außer Kontrolle. Etwas in ihren Gedanken und Empfindungen stimmte nicht mehr. Es kam ihr vor, als habe sie nicht nur ihre Freundinnen einfach stehengelassen, sondern ein für allemal alle Menschen. Als wäre sie von der Fete nicht vorzeitig abgehauen, um allein zu sein oder weil sie das Geschwätz und die bekifften Gesichter nicht länger ertrug, sondern weil alles und jeder ihr vermittelt hatte: Du gehörst hier nicht her, du gehörst nicht dazu, und du hast nie dazugehört, wir haben immer nur so getan, als wärst du eine von uns.
    Und sie hatten recht.
    Linda trommelte schneller und wippte vor und zurück und schlug ihren Mantel um den Oberkörper, die Hände in den Taschen.
    Das war es, was sie auf einmal begriff: Sie konnte nicht mehr zurück.
    Nicht mehr zurück ins alte Jahr, zu den alten Freundinnen, zu den alten Sachen, sie gehörte nicht mehr dazu.
    Und der Mann, den sie im Dunkeln beobachtet und den sie angesprochen hatte, weil sie auf der Stelle herausmußte aus dem ewigen Kreis, der sie seit hundert Jahren umschloß, dieser Mann erschien ihr wie ein Bote, der ihr ein Zeichen gab, den Kreis zu durchbrechen, endlich, in den ersten Stunden des neuen Jahres.
    Sie hatte ihn nie zuvor gesehen und genau wie ihre Freundinnen gedacht, er wäre einer der üblichen Spanner und Spinner, die in ihrem Alter keine Frauen mehr abkriegen und deswegen jungen Mädchen hinterhergieren.
    Natürlich hatte sie das gedacht. Aber dann hatte sie mit ihm getrunken, und sie hatten geredet, und sie fand seine Stimme angenehm und überhaupt nicht sabberig. Und dann folgte sie ihm den Hügel hinunter und spürte die Blicke in ihrem Rücken, das ganze Unverständnis und hörte das hämische Tuscheln noch in hundert Metern Entfernung. Die anderen kapierten nichts. Wahrscheinlich standen sie immer noch auf dem Schuttberg und zerrissen sich das Maul über sie und hatten keine Ahnung, was wirklich geschah.
    Sollte sie dem unbekannten Mann je wieder begegnen, würde sie ihm danken, auch wenn er nicht verstand, wieso und wofür. Sie würde ihn ansehen und wissen: Dieser Mann hat sie aus der Starre erlöst, aus ihrem zwecklosen Leben zwischen Kuschelecke zu Hause und Sitzecke in der Schule, zwischen Schwätzern im Unterricht und Wichtigtuern auf der Straße. Der Mann war gekommen, um sie mitzunehmen, und er ahnte nicht einmal, welchen besonderen Auftrag er in der Silvesternacht erfüllt und welches Glück er ausgelöst hatte. Wahrscheinlich war er nur ziellos durch die Gegend geschlendert, wollte sich am Feuerwerk erfreuen und irgendwo ein Bier trinken und niemandem zu nahe treten. Denn so schätzte Linda ihn ein: Er war ein Mensch, der Abstand hielt und einen anderen nicht belagerte und nicht mit Gelaber zumüllte, sondern ihm ein stilles Leben gönnte.
    Sie wollte nicht länger falsch leben, dachte sie auf der Bank vor der Kirche in der Hiltenspergerstraße. Und dieser Mann, den sie hundertprozentig niemals wiedersehen würde, hatte sie gerettet.
    »Hey, Arthur«, rief sie über die Straße. »Du hast was gut bei mir, meld dich mal.«
    Sie sprang von der Bank, breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und blickte mit fiebrigen Augen hinauf zu den Sternen.
     
    »Was soll das?« sagte Fallnik mit harter Stimme. »Wer hat dir erlaubt, dich auszuziehen?«
    »Du hast was gut«, sagte sie.
    »Was hab ich? Was hab ich?« Speicheltropfen landeten auf ihrer Haut.
    Sie streckte die Hand aus. Er schlug ihren Arm zur Seite, und ihr Handrücken prallte gegen den Türrahmen.

13 Total vermißt
    M it dem tragbaren Telefon am Ohr durchquerte er die Wohnung, vom Wohnzimmer in den Flur, vom Flur in die Küche, von der Küche in sein kleines Büro, von seinem Büro ins Schlafzimmer, von dort zurück ins Wohnzimmer.
    Plötzlich hatte er gezögert,

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