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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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herausbrach, der ihn zwang, sich hinzuknien.
    Aus und raus.
    Auf der Straße.
    Seine einzig konstante Rolle existierte nicht mehr. Bruder der Frau Morgenroth, der seine eigenen Wege ging, nach Frankreich, Italien, Amerika. Koch in renommierten Häusern in Paris, Mailand, New York. Man rief Rudolf von Lodern, und er kam und veredelte mit seinen Künsten das Ambiente. Ein Künstler, leider kein Geschäftsmann, er verausgabte sich, und weil er nicht nein sagen konnte, seine Kräfte aber nicht für jedes Ja reichten, fing er an, das weiße Pulver zu schnupfen. Niedergang. Noch sorgte die Familie sich um ihn, noch gehörte er dazu. Noch schrieben die Autoren Text für ihn.
    Nun nicht mehr.
    Nie mehr von nun an.
    An der Menterschwaige zwischen Grünwald und Harlaching, am späten Nachmittag des dreißigsten April vor zwei Jahren, erbrach er das Wort ERLEDIGT auf den Asphalt.
    Dann erhob er sich schwankend und sagte zu einem mit einer blauen Plane ausgeschlagenen Abfalleimer neben der Straße: »Meine Angst hat recht behalten.«
    Zu Hause war niemand, der widersprach, nicht der Angst und nicht ihm, dem Ängstling.
     
    An jenem Nachmittag des dreißigsten April tat er etwas, das ihm im nachhinein wie ein Spuk erschien: Er fuhr mit dem Regionalzug an die Osterseen südlich von München. In dem kleinen Dorf, in dem er mit Jana früher fast jedes Wochenende verbracht hatte, ging er vom Bahnhof den Weg bis zum Hotel oberhalb der Seen, deren Schilfufer zwischen grünen, stillen Hügeln lagen. Krähen flogen darüber hinweg, Kühe grasten hinter Zäunen, und in der Ferne begrenzte dunkler Wald den Horizont.
    Er stand auf der Terrasse des Restaurants und fotografierte mit einem geliehenen Apparat seinen Blick. Danach verbrachte er, ohne ein einziges Mal aus dem Fenster zu sehen, die Nacht in einem Zimmer im ersten Stock. Er lag auf dem Bett und schlief nicht ein, er hörte das Schnattern der Enten und die Rufe der Krähen und ein hämisches Lachen. Er stellte Summen zusammen, die er mühsam errechnete, Summen seiner Ausgaben, Miete, Lebensmittel, Wäscherei. Verbissen zählte er an seinen Fingern die Termine ab, die er in den nächsten vier Wochen zu erledigen hatte. Und je mehr er rechnete und verglich, kalkulierte und umschichtete, desto heftiger mußte er sich kratzen, an den Beinen, am Rücken, auf der Brust. Das Jucken wurde immer stärker, er rang nach Luft und schwitzte erbärmlich. Er schüttelte das Kopfkissen auf, die Bettdecke, die schon feucht war.
    Als er mit beiden Händen auf seinem Kopf rieb, weil die Kopfhaut aus einem einzigen Kribbeln bestand, hatte er büschelweise Haare zwischen den Fingern.
    Maßlos erschrocken sprang er aus dem Bett und betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers. Kahle Stellen zwischen den verklebten Fransenhaaren, strohtrockene Haut, hervorquellende Augen, dürrer Schwanenhals, Kuhgesicht.
    Er war aus der Rolle gefallen.
    Er würde nie wieder in eine Rolle passen.
    Erledigt.
    Seine Angst hatte recht behalten.
    Wenn er könnte, würde er sich unter seinem Schatten verstecken.

15 Draußen ist nichts
    D ie Miete konnte er noch bezahlen. Er brauchte nicht auszuziehen. Sein Konto war noch nicht überzogen. Er trug saubere Wäsche. Von den Haaren abgesehen, war er unauffällig.
    Schlecht.
    Als Schauspieler sollte er auffallen.
    Sie sind doch kein Schauspieler mehr, Herr Madaira. Nur noch ein Darsteller.
    Nicht einmal mehr das.
    Jetzt ein Nichtsdarsteller.
    Nein. Er hatte Verpflichtungen im Funkhaus, er sprach eine Hauptrolle in einem Hörbuch. Er hatte doch noch seine Stimme. Haare waren egal. Er würde seinen Kopf kahl rasieren, das machten viele in seinem Alter.
    Aber aus anderen Gründen, Herr Madaira.
    Eine Zeitlang ging er nicht mehr aus dem Haus. Tagelang sprach er mit niemandem. Bis seine Stimme in einem Geschäft versagte und er auf die Straße rannte und zu Hause aus Scham die Wohnungstür absperrte und abends das Licht nicht anknipste und im Dunkeln zitternd auf dem weißen Klappstuhl saß, der früher mit dem anderen auf dem Balkon gestanden hatte, wenn Jana und er ein Glas Wein tranken und den Tag Revue passieren ließen und manchmal auch still sein konnten, ohne sich anzuschweigen.
     
    Heute gehen Sie furchtlos hinaus, Herr Madaira, sagte er zu sich. Heute, am ersten Januar, gehen Sie mal wieder öffentlich essen, Ihr Gesicht ist noch bekannt und Ihre Stimme schmückt die Gespräche der anderen.
    Sie sind lächerlich, Herr Madaira.
    Nein, das bin ich nicht.
    Doch.
    Nein.
    Sie

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