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Hinter blinden Fenstern

Hinter blinden Fenstern

Titel: Hinter blinden Fenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wieder Schnee fallen, wie im letzten und vorletzten Jahr. Schnee ist egal.
    Wie lange sitzen Sie schon hier, Herr Madaira? Zwei Stunden. Ist das nicht zu lange? Nein. Sind Sie sicher? Ich sitze hier, weil ich immer hier sitze, ich schaue in die Natur, in eine unversehrte Gegend, das ist erlaubt. Aber Sie werden nicht gesund davon. Ich bin gesund. Sie sind krank. Ich bin gesund. Nein. Nein. Nein.
    Ich weiß ja.
    Langsam wachsen meine Haare wieder.
    Das ist eine Einbildung.
    Das ist keine Einbildung.
    Er strich sich über den kahlen Kopf und ertastete eindeutig Stoppeln, hier und da.
    Am ersten Mai werde ich mich wieder kämmen können, dachte er. Das ist mein Ziel, das will ich schaffen. Ein lächerliches Ziel, Herr Madaira. Warum denn?
    Keine Antwort.
    Warum denn?
    So ein Ziel ist lächerlich, weil es außer Reichweite liegt, und was außer Reichweite liegt, kann man nicht erreichen, und was man nicht erreichen kann, kann man nicht handhaben, und was man nicht handhaben kann, hat man nicht in der Hand, und was man nicht in der Hand hat, kann man nicht steuern, und ein Ziel, das man nicht eigenhändig ansteuern kann, ist lächerlich.
    Und auch egal.
     
    Folgendes gedacht: Der ehemalige Vier-Sterne-Koch, ein zwar angesehener, doch selbstgefälliger, herrischer Mann, kehrt nach Verbüßen seiner Gefängnisstrafe, zu der er wegen Handel mit Kokain, was er, wie wir wissen, immer bestritten hat, verurteilt worden war, zermürbt und willens, sich zu ändern, in die Familie zurück. Er scheut sich nicht vor niederen Arbeiten und erhält bald eine Stelle als Gärtner auf dem Anwesen der Morgenroths. Ausgerechnet er, der überzeugt war, zwei linke Daumen zu haben, und der Pflanzen seit jeher für Grünzeug und Blumen für reine Zierde bei der Dekoration exquisiter Mahlzeiten gehalten hatte.
    So wäre die Figur des Rudolf von Lodern zu retten. Und es erschlössen sich – auch nach sechshundertfünfzig Folgen – neue Spiel- und Entfaltungsmöglichkeiten für alle Beteiligten.
    Dumm gedacht. Denken lag nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, bei weitem nicht. Rudolf von Lodern, der abgehalfterte, gescheiterte, drogensüchtige Koch bringt die »Morgenroth-Saga« nicht mehr voran, er erhängt sich in der Gefängniszelle, die Fangemeinde weint, das Leben geht weiter.
    »Sie mit Ihrem Kaliber«, sagte der Produzent bei der Verabschiedung am 30. April, »Sie können überall einsteigen. Außerdem sind Sie eine Legende als Hörfunksprecher, ohne Sie gäb’s das Radio schon gar nicht mehr. Die Leute schalten nur wegen Ihrer Stimme ein. Ich möchte Ihnen …«
     
    Schon Monate vorher hatte er das Vibrieren in der Luft gespürt. In der Luft auf dem Studiogelände, in der Studioluft. Dann in der Straßenbahn, in der Wohnung. Dann in sich selber, und dort war es geblieben und verwandelte sich nach und nach in einen Furchtklumpen, der ihn jeden Morgen schweißgebadet erwachen ließ. Mit jedem seiner Schritte watete er in flüssigem Beton. Jeder Satz, den er zu sprechen hatte, klang mürbe und wie aus einem verkehrten Mund.
    Nicht die Figur, die er seit mehr als zehn Jahren in der wöchentlichen Fernsehserie verkörperte, hatte den Boden unter den Füßen verloren, sondern er, Walter Madaira, der Schauspieler, fand keinen Halt mehr. Die Angst, nicht mehr gebraucht, nicht mehr gefragt und besetzt, nicht mehr gefordert zu werden, entfachte sich aus sich selbst. Er konnte dabei zusehen, wie er schrumpfte.
    Er wollte nicht schrumpfen. Er wollte auftreten, spielen, sprechen, agieren, reagieren, die Rolle ausfüllen, den Text modulieren, auf der Straße Autogramme geben.
    Statt dessen rechnete er unentwegt mit Absagen. Mit Verschiebungen. Mit der Mitteilung, weshalb die Produktion eines Hörspiels im letzten Moment doch nicht klappte. Weshalb der Dreitagesdreh für einen Spielfilm gestrichen werden mußte.
    Am Set vergaß er seinen Text, im Hörfunkstudio verhaspelte er sich. Er schwitzte und bildete sich ein, unangenehm zu riechen. In den unmöglichsten Augenblicken begann seine Haut zu jucken, vor laufender Kamera, in einer konzentrierten, dialoglastigen Szene. Und der Regisseur haßte jede Unterbrechung, Zeit war teuer, und die Darsteller hatten zu funktionieren.
    Er war Darsteller und nicht mehr, wie früher, Schauspieler. Er stellte bloß noch dar und schwitzte.
    In der Kantine redete er plötzlich mit sich selbst, allein am Tisch, während die anderen wie eine verschworene Clique immer denselben Tisch nahmen, ohne ihn zu fragen, ob er

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